Die Behandlung: Roman (German Edition)
überfahren hatte; ein weiteres Kind, das aus dem vierzehnten Stock eines Hochhauses gestürzt war. Sie sah ihren kleinen Jungen vor sich, wie er vor dem Fernseher auf dem Boden lag und sich mit den Fingernägeln an seinem verkrusteten Knie zu schaffen machte. Damals hatte sie nur einen Wunsch verspürt: Sie wollte ihm unbedingt die Socken ausziehen und seine kleinen Zehen küssen. Ja, er konnte in Zukunft mit seinen dreckigen Gummistiefeln so viel im Haus herumlaufen, wie er wollte, er konnte sämtliche Wände beschmieren, jede einzelne Fensterscheibe mit dem Fußball zertrümmern, sie von früh bis spät schikanieren, sie beschimpfen – wenn sie ihn nur noch einmal wieder sehen durfte. Wenn sie nur noch einmal den Duft seines Haars riechen durfte. Nur ein einziges Mal.
Kurz vor Morgengrauen schlief Benedicte gegen ihren Willen ein, fiel in einen fiebernden, unruhigen Schlaf, sah im Traum die schrecklichsten Lichtblitze, hörte geisterhafte Stimmen.
In Croydon hatte sich der Himmel zwischen den Hochhäusern inzwischen hellblau verfärbt. Es war jetzt fast 6 Uhr, und unten im Hof brüllte ein Einsatzleiter irgendwelche Befehle. In dem Großraumbüro nebenan würde der Tag allerdings erst in zwei Stunden beginnen. Caffery sah sich das Video gerade zum zweiten Mal an und machte sich gedankenverloren einige Notizen. Als er den Film zum ersten Mal gesehen hatte, war er völlig baff gewesen: Immerhin wog die Frau in dem Video gut neunzig Kilo. Sie hatte eine platte Boxernase, eine unschön gefleckte Haut und glänzendes brünettes Haar. Sie war in einen schwarzen Bademantel gehüllt und trug Seidenschlappen an den Füßen. Der Junge blickte immer wieder fragend in die Kamera, als ob er sich vergewissern wollte, ob man mit seiner Darbietung zufrieden sei. Währenddessen machte sich die Brünette mit ihren rot-schwarz-lackierten Fingernägeln an der Innenseite seiner Oberschenkel zu schaffen und verzog dabei wollüstig den Mund. Am Anfang des Videos erschien sie in dem Raum, setzte sich auf das Sofa und kam der Kamera so nahe, dass eine Tätowierung an ihrem Oberarm zu erkennen war: ein Herz hinter Gitterstäben. Caffery kritzelte das Motiv auf das Papier.
Caffery war jedoch nicht nur über die Erscheinung der Frau und darüber verblüfft, wie völlig ungeniert sie das Kind auf dem Sofa missbrauchte, noch erstaunlicher fand er die Tatsache, dass sie sich überhaupt keine Mühe gab, ihre Identität zu verbergen. Natürlich sollten die Bänder später noch geschnitten werden, und deshalb waren die Kinderschänder wohl in manchen Szenen deutlich zu erkennen. Üblicherweise waren Erwachsene, die in solchen Machwerken mitwirkten, darauf bedacht, ihr Gesicht unter allen Umständen zu verbergen. Deshalb wurde in diesen Filmen im Normalfall alles sorgfältig ausgeblendet, was auf die Identität der Täter hinweisen konnte: Bücherregale mit Betttüchern abgehängt, Etiketten aus den Kinderkleidern herausgetrennt. In den Filmen, die es bis ins Internet schafften, wurden kompromittierende Details im Allgemeinen sogar mithilfe eines Grafikprogramms wegretuschiert. Nicht so in diesen Videos. Immer wieder erschienen Gesichter, Schallplattenhüllen, CD-Titel kurz im Bild – und in diesem Fall sogar eine Tätowierung. In einigen der Filme war im Off Stimmengemurmel zu hören – Männer, die sprachen, das Geschehen vor der Kamera kommentierten, sich darüber unterhielten, wie sie sich an dem betreffenden Kind vergehen konnten. Caffery konnte sogar einige Namen verstehen: Stoney, Rollo, Yatesy . Er kritzelte alles, was er für wichtig hielt, auf seinen Notizblock.
Die Videos, in denen die Brünette auftrat, waren zwar ohne Ton, doch zumindest der letzte der Filme enthielt zahlreiche visuelle Hinweise, mit denen sich etwas anfangen ließ. So stand etwa hinter dem Kunstledersofa ein beleuchteter Vitrinenschrank, in dem diverse Andenken und Ziergläser zu erkennen waren – samt einem in Gold gerahmten Foto. Gleich am Anfang des Bandes war eine unglaubliche Szene zu sehen, die noch viel weitergehende Schlussfolgerungen erlaubte. Caffery drückte auf die Stop-Taste, dann auf Rücklauf, dann auf Play. Die Frau stand auf und ging quer durch den Raum. Er schaltete auf Rücklauf. Sie ging rückwärts durch das Zimmer, ließ sich auf das Sofa sinken und schlug die Beine übereinander. Stop. Play. Sie stellte ihre Beine wieder nebeneinander, stand auf und ging quer durch das Zimmer. Stop. Rücklauf. Zurück zum Sofa. Stop. Play. Rückund
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