Die Behandlung: Roman (German Edition)
kamen all die alten Gefühle wieder in ihm hoch, als er sich das Video anschaute – nur gedämpfter als früher. Sieh an , dachte er und legte das Armeemesser auf den Schreibtisch, hast dich also schon fast damit abgefunden.
Woher mögen bloß all diese Kinder kommen?, überlegte er. Und wo sind sie jetzt? Das kleine blonde Mädchen, das er gerade vor sich sah, war kaum einen Meter groß und stand in Ringelsöckchen und mit hochtoupierten Haaren vor einem rosa-goldlackierten Ankleidetisch. Wer ist dieses Mädchen? Wo mag sie gerade sein? Was hat man ihr erzählt, dass sie es richtig und gut findet, vor der Kamera die Beine zu spreizen und dabei zu lächeln?
Er sah schlecht ausgeleuchtete Szenen in Wohnwagen, Hotelzimmern, eine Aufnahme, die bei strahlendem Sonnenschein auf einem Balkon entstanden war – in der Ferne waren sogar noch die Wimpel eines Golfplatzes zu erkennen. Allmählich dämmerte ihm, was er da entdeckt hatte: Diese Bänder waren nicht für Pendereckis private Zwecke bestimmt, nein – sie hatten eine viel wichtigere Bestimmung. Es handelte sich nämlich um Masterbänder, daran hegte er keinen Zweifel mehr. Auch die Bildqualität und die Art und Weise, wie das Material verwahrt worden war, deuteten darauf hin, dass es sich um Originalkopien handelte. Caffery war gewissermaßen in den innersten Kern eines Pädophilen-Ringes vorgedrungen. Diese Videokassetten waren das wichtigste Kapital dieser Leute, und diesen Schatz des Bösen hatte Penderecki direkt neben dem Bahndamm verwahrt.
»Scheiße.«
Er stand auf, ruderte mit den Armen und ließ den Kopf kreisen, weil sein Nacken völlig steif war. Dann zündete er sich eine Zigarette an, ging rauchend im Büro auf und ab und starrte auf den Monitor. Eigentlich wäre es seine Pflicht gewesen, sofort die zuständige Abteilung einzuschalten. Außerdem hätte er in Souness’ Wohnung anrufen und ein paar Worte mit Paulina wechseln müssen. Aber Penderecki hatte ihm diese Videos gewiss nicht zufällig zukommen lassen. Er drückte die Zigarette aus, ging nach nebenan, schloss die Tür zum Gang ab und kehrte dann in sein Büro zurück. Seine Entscheidung war gefallen: Er konnte die Videos erst aus der Hand geben, wenn er wusste, welche Botschaft – oder welche Gemeinheit – Penderecki ihm auf diesem Weg übermitteln wollte.
Elf Zwanzig-Minuten-Bänder. Fast vier Stunden. Sah ganz so aus, als ob es sich lediglich um fünf verschiedene Episoden handelte, von denen manche über mehr als drei Bänder verteilt waren. Außerdem deuteten die wechselnden Bildqualitäten und Kleidermoden darauf hin, dass zwischen den früheren und den späteren Aufnahmen zehn oder mehr Jahre liegen mussten. Trotz der frühen Morgenstunde arbeitete er unermüdlich weiter und ließ jeweils eines der Bänder ablaufen, während er bereits das Nächste umspulte. Wie am Fließband: Spulen, anschauen, spulen, anschauen.
Gegen 6 Uhr früh hatte er schließlich sämtliche Bänder gesichtet und dabei nur ein Band entdeckt, das er sich noch ein zweites Mal anschauen wollte. Vielleicht das widerlichste Video der ganzen Sammlung. In dem Film beugte sich die Hauptfigur – eine Frau – über einen vielleicht elfjährigen Jungen, der auf einem quietschenden Kunstledersofa saß, öffnete ihm die Hose und betrieb Fellatio bei ihm. Obwohl er die Frau schon auf vier anderen Bändern gesehen hatte, beschloss Caffery, exakt dieses Video abermals in das Gerät zu schieben und bis zum Anfang zurücklaufen zu lassen.
Als Benedicte schließlich vom Heulen und Schreien völlig erschöpft war, legte sie sich einfach neben dem Heizkörper auf den Rücken und stellte sich vor, dass sie noch ein Kind wäre: Über sich sah sie wieder das weiche, sanft lächelnde Gesicht ihrer Mutter, die sich zu ihr herabbeugte und ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange hauchte. Sie dachte an Josh, den kleinen Josh – an die Zeit, als er noch ein Säugling gewesen war und sie ihn fast beneidet hatte, weil sie selbst nie wieder so absolut neu und unschuldig sein konnte. Und dann hatte Hal den kleinen Josh in die Luft geworfen, und der Junge hatte mit seinen dicken Beinchen gestrampelt, als ob er durch die Luft schwimmen wollte. Und wenn Josh dann mitten in der Nacht plötzlich Fieber bekommen hatte, waren sie beide in Panik geraten, da sie Angst bekamen, ihn zu verlieren. Natürlich hatten sie immer gewusst, dass die Welt ihre schwarzen Löcher hatte: Sarah Payne; Jason Swift; ein kleiner Junge, den in Camberwell ein Lkw
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