Die Behandlung: Roman (German Edition)
Sicherheit ergriffen von ihr Besitz. Jetzt, da sie wusste, dass sie ohnehin sterben musste, machte sich unversehens ein warmes Kribbeln in ihrer Wirbelsäule bemerkbar, und sie fasste den unerschütterlichen Vorsatz, ihr Kind und ihren Mann wenigstens noch einmal zu sehen. Was immer den beiden auch zugestoßen sein mochte, sie wollte sie wenigstens noch einmal betrachten.
Zum hundersten Mal inspizierte sie die Handschellen, zerrte daran. Sie ließ ihre Finger über das Kupferrohr gleiten – hatte sie nicht irgendwo gelesen, dass es Holzfäller gab, die ihren abgetrennten Arm kilometerweit durch Hickory- und Tannenwälder zur nächsten Siedlung getragen hatten? Vielleicht konnte sie ja ihren Fuß irgendwie abhacken. Schließlich hatte es in der Zeitung geheißen, dass Carmel Peach sich fast die Hand abgerissen hatte, um sich von ihrer Metallfessel zu befreien? Mein Gott, ist sie vielleicht eine bessere Mutter als ich?
Sie hockte wie betäubt auf dem Boden und blickte sich in dem Zimmer um. Sie tastete an der Fußleiste entlang, suchte nach dem Telefonkabel – hielt sich, als sie nichts fand, verzweifelt an den Rippen des Heizkörpers fest und zermarterte ihr müdes, verzweifeltes Gehirn. War es vielleicht irgendwie möglich, die Fußbodendielen herauszubrechen? Konnte es nicht sein, dass es unter dem Holz in dem Rohr ein Verbindungsstück gab und sie die Handschelle irgendwie abstreifen konnte?
»Und wenn es mich das Leben kostet«, murmelte sie. »Ja, selbst wenn es den Tod bedeutet.«
»Nicht schon wieder«, raunten sich die Krankenschwestern zu und sahen sich viel sagend an, als Alek Peach auf die Intensivstation gebracht wurde. Bei der Endoskopie hatte man ein Magengeschwür entdeckt. Dr. Friendship, der Stationsarzt, konnte solche stressbedingten Geschwüre fast blind diagnostizieren, schließlich hatte man auf der Intensivstation ständig mit solchen Symptomen zu tun. Bisweilen führte ein schwerer Schock dazu, dass die Magenwand und der Darm eines Patienten nicht mehr richtig durchblutet wurden. Obwohl solche Patienten sofort Cimetidin erhielten, konnte es passieren, dass sie bereits wenige Tage später wieder eingeliefert wurden, weil sie Blut spuckten. Bei der Endoskopie hatte man gleich eine Dosis Adrenalin in Peachs Magengeschwür injiziert, um den Blutverlust zu stoppen, allerdings sprach vieles dafür, dass man es bereits mit einer Bauchfellentzündung zu tun hatte, die ein tödliches Risiko darstellte, falls es nicht gelang, die Krankheit mit hochdosiertem Antibiotikum niederzukämpfen. Bei diesem Patienten überließ Friendship nichts dem Zufall, schließlich bekundete die Presse ein reges Interesse an dem Fall. Deshalb hatte er sich vorgenommen, Alek Peachs Leben mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Ayo Adeyami war nicht im Dienst gewesen, als man Peach eingeliefert hatte. Sie hatte gerade drei Tage frei gehabt – von denen sie einen darauf verwendet hatte, sich von dem Champagner zu erholen, dem sie gemeinsam mit Ben allzu reichlich zugesprochen hatte. Am zweiten Tag hatte sie dann diverse Einkäufe erledigt und am dritten nur auf dem Sofa herumgelümmelt und sich mit ihrem Baby beschäftigt, das sich bereits durch Fußtritte bemerkbar machte. Dass auf der Station ein solcher Aufruhr herrschen würde, hatte sie natürlich nicht erwartet. Beide Ausgänge wurden von Polizisten bewacht, und das Pflegepersonal huschte nervös durch die Gänge. Eine der Nachwuchspflegerinnen, unter deren Klatschsucht Ayo schon des Öfteren zu leiden gehabt hatte, kannte natürlich die neuesten Gerüchte über die Familie Peach. Doch diesmal war selbst Ayo neugierig. Als sich die Situation auf der Station wieder ein wenig beruhigt hatte, zogen sich die beiden Frauen in die Kaffeeküche zurück, tranken Filterkaffee und machten sich über eine große Packung Käsegebäck her. Durch das offene Fenster wehte eine wohltuende Brise herein. Draußen auf dem Gang hatte ein bewaffneter Polizist in schusssicherer Weste neben der Tür diskret Stellung bezogen.
»Also so was – man sollte es nicht für möglich halten.« Die Pflegerin sah Ayo verschwörerisch an und legte sich seitlich die Hand an den Mund, damit der Polizist draußen im Gang sie nicht hören konnte. »Also, meine Schwester«, begann das Mädchen mit ihren orangefarbenen Lippen.
»Ja?«
»Also, meine Schwester ist Sprechstundenhilfe – und was glauben Sie, wo sie arbeitet?«
»Keine Ahnung.«
»Ausgerechnet bei dem Hausarzt dieser Leute. Bei dem
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