Die Behandlung: Roman (German Edition)
Hausarzt der Familie Peach.«
Ayo hatte sich mittlerweile trotz gewisser Vorbehalte innerlich auf eine erstklassige Klatschgeschichte eingerichtet. Deshalb blickte sie kurz zur Tür hinüber, drehte sich dann auf ihrem Stuhl um und platzierte ihren kugelrunden Bauch so, dass ein Teil des Gewichts von der Stuhllehne abgefangen wurde. Sie zog die Stirn in Falten, rückte noch ein kleines Stück näher und sah die junge Schwester erwartungsvoll an. »Wirklich?«
»Ja, echt. Jedenfalls hat die Mutter ungefähr vor einem Monat in der Praxis angerufen und wollte unbedingt sofort einen Termin haben. Und dann hat sie erzählt, dass ihr Mann ihren Sohn geschlagen hat, weil der Kleine …«
»Um Gottes willen.« Ayo blickte nervös um sich und gab sich redlich Mühe, nicht allzu neugierig zu erscheinen. »Davon hab ich in der Zeitung allerdings nichts gelesen.«
»Ich weiß . Sie wollte unbedingt mit dem Arzt sprechen, weil ihr kleiner Junge auf alle möglichen Sachen gepinkelt hat. Stellen Sie sich das mal vor – zum Beispiel auf Teppiche und so was.«
»Ein achtjähriger Junge?!«
»Ja, echt.« Die Schwester lächelte den Beamten draußen auf dem Gang freundlich an, als ob sie sich gerade über die neuesten Modetrends ausgelassen hätte, drehte sich dann wieder in Ayos Richtung und legte abermals die Hand an den Mund. »Doch dann ist die Frau zu dem vereinbarten Termin nicht erschienen, und das Nächste, was meine Schwester gehört hat, war, dass der Mann im Krankenhaus ist – und dass der kleine Junge … na ja, Sie wissen schon.«
»Unglaublich.«
»Kann man wohl sagen.«
»Richtig unheimlich.« Ayo zog die Augenbrauen hoch. Ein Kind, das auf eine Bettdecke pinkelt – kam ihr das nicht irgendwie bekannt vor? Hatte nicht Bens alter Hund genau das Gleiche getan? Und hatte nicht Josh im Bad …?
»Und ist das der Grund, weshalb jetzt die Polizei hier ist?«
»Passen Sie nur auf – das werden wir noch früh genug erfahren.«
Rebecca schlotterte am ganzen Körper. Draußen vor dem Fenster schien die Sonne, und die rostbraunen Blätter von Greenwich kontrastierten aufs Schönste mit dem blauen Himmel. Allerdings hatte ihr Zustand mit dem Wetter nichts zu tun. Die Kälte kam von innen, lastete wie Blei auf ihr. Sie stand in der Küche und packte die Einkaufstüten aus – drei Tüten Orangensaft, außerdem Milch, zwei Flaschen Wodka und ein Fertiggericht: Hühnchen in Estragon. Sie wusste, dass sie unbedingt etwas essen musste. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie fast nur getrunken, insgesamt nur drei Stunden geschlafen und nichts gegessen. Schon bei Sonnenaufgang war sie völlig verschwitzt und mit verfilzten Haaren wieder aufgewacht; in der Wohnung das reinste Chaos. Irgendwann in der Nacht hatte sie noch ein zweites Glas zertrümmert, diesmal im Atelier, und dann hatten überall die kleinen Pappröllchen herumgelegen, die sie für ihre Joints gebraucht hatte. Nichts Essbares in der Küche, nur eine zehn Jahre alte Flasche Bailey’s auf der Fensterbank, der von der Sonne schon eingetrübt war. Sie hatte so einen dicken Kopf gehabt, dass sie erst mal losgezogen war, um sich eine Packung Paracetamol zu besorgen. Jetzt legte sie sich die Hand auf die Stirn und betrachtete ihre Einkäufe. Verdammt – weit und breit kein Paracetamol. Dabei war sie doch extra rausgegangen, um sich Schmerztabletten zu besorgen – und mit zwei Flaschen Wodka zurückgekommen.
O Gott . Nein, sie konnte unmöglich noch einmal nach drau ßen in die helle Sonne gehen. Sie kramte in der Küche aus der hintersten Ecke des Schrankes ein verstaubtes Glas hervor, spülte es aus, öffnete eine der beiden Smirnoff-Flaschen und machte sich einen schwachen Wodka-Orange. Natürlich nur, um das Kopfweh zu besänftigen und endlich den ersehnten Schlaf zu finden – nein, auf keinen Fall wollte sie sich schon wieder betrinken. Mein Gott, wie verdammt schwer es ist, zu schlafen, wenn draußen die Sonne scheint. Sie schnüffelte an dem Getränk und kostete dann davon. Schon nach dem zweiten Schluck schmeckte die Mischung gar nicht mehr so bitter, sondern herrlich süß. Sie rollte die Ärmel ihrer Bluse hoch und ging mit dem Glas in das Atelier hinüber, um die Fensterläden zu schließen. Danach ging es ihr schon deutlich besser. Wenigstens konnte jetzt kein Mensch in Greenwich in ihre Wohnung glotzen und sehen, wie leer sie war. Allerdings schien durch das Küchenfenster noch immer die Sonne herein, also ging sie zurück und machte
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