Die Behandlung: Roman (German Edition)
müssen wir auf später verschieben, Mrs. Nersessian. Unsere Fahndung läuft auf Hochtouren.«
Sie tauchte mit einem Geschirrtuch in der Hand in der Tür auf. »Aber mein Bester, Sie müssen doch essen. Schauen Sie sich doch nur an – kein Gramm Fett am Leib. Gerade in schwierigen Situationen muss man genug essen, um in Form zu bleiben.«
»Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie auf eine Tasse Tee besuche – sobald wir Rory gefunden haben.«
»Rory.« Sie legte sich die Hand aufs Herz. »Ach, der arme Junge. Aber Gott wird ihn beschützen. Das spüre ich ganz deutlich. Gott hat ein Auge auf ihn, und – Annahid! «, sagte sie plötzlich, und ihr Blick ging seitlich an ihm vorbei. »Annahid! Hab ich nicht gesagt …?«
Caffery drehte sich um. »Das hat der Troll getan.« Das kleine Mädchen stand mit weit aufgerissenen Augen in der Tür und sprach ernst auf Caffery ein. »Der Troll ist von seinem Baum heruntergeklettert und hat ihn geholt.«
Mrs. Nersessian schnalzte tadelnd mit der Zunge und scheuchte die Kleine mit dem Geschirrtuch wieder hinaus. »Du gehst sofort wieder nach oben.« Dann wandte sie sich in Cafferys Richtung und sah ihn mit halb geschlossenen Augen an, während sie mit der freien Hand ihr Haar wieder in Ordnung brachte. »Tut mir Leid, Mr. Caffery, tut mir aufrichtig Leid. Diese Kinder leben heutzutage in einer merkwürdigen Fantasiewelt.«
Nirgendwo in London ist das Leben so aufregend und bunt wie in Brixton, wo in den viktorianischen Häusern in den letzten Jahrzehnten ein lebensfrohes karibisches Völkchen heimisch geworden ist. Seit den Neunzigerjahren hat sich hier allerdings noch eine weitere Gruppe breit gemacht: die – vornehmlich weiße, trendige – Kunstszene. Hierher gezogen sind diese Leute wegen des »Lokalkolorits« und haben es dann Stück für Stück aus dem Viertel getilgt. Totsaniert, könnte man auch sagen. Im Brixtoner Bahnhof steht die Statue eines Jungen von der Windrush , einem vormals deutschen Schiff, das die Briten nach dem Krieg requirierten. Auf ihm kamen 1948 die ersten Schwarzen aus der Karibik nach England. Die Arme des Jungen sind verschränkt, und er trägt ein Tuch um den Hals. Vor ihm auf dem Boden steht eine kleine Tasche. So stand die Statue auch an diesem Tag da und stützte sich nach hinten mit dem Fuß gegen die Wand, während die trendigen Brixtoner Neubürger mit ihren Gucci-Mappen achtlos an der Figur vorübereilten und sich in einen der Züge drängten.
Ein hochsommerlicher Ferientag, und die Straßen dampften vor Hitze. Die Straßenkehrer waren schon da gewesen und hatten kaum die letzten Nachtschwärmer mit den harten Strahlen ihrer Wasserschläuche in die U-Bahn-Schächte getrieben, als das Wasser auf den Straßen auch schon wieder verdunstet war. Über dem Park kreiste jetzt ein anderer Helikopter, an dem sich die Sonnenstrahlen glitzernd brachen. Ein Fernsehteam, das von den Geschehnissen in Südlondon Wind bekommen hatte, flog über den Park, um die sensationslüsterne Öffentlichkeit mit möglichst spektakulären Bildern zu versorgen. Aus der Luft waren deutlich die Suchtrupps der Polizei unten im Park zu erkennen, während in den angrenzenden Straßen zahlreiche Zivilbeamte von Haus zu Haus gingen und Erkundigungen einzogen.
Guten Morgen, Madam, entschuldigen Sie die Störung – ich bin von der Polizei …
Handelt es sich um die Sache, über die das Fernsehen heute früh berichtet hat? Den kleinen Jungen?
So gingen die Beamten von Haus zu Haus. Durch den kleinen Vorgarten zur Tür, dann ein kurzer Wortwechsel, anschließend wieder auf die Straße hinaus und durch den angrenzenden Vorgarten zum Nachbarn:
Gestern Abend hat es hier einen Zwischenfall gegeben. Können Sie mir vielleicht sagen, wo Sie um die Zeit gewesen sind?
Ich konnte diesen Park noch nie ausstehen. Sehen Sie die Bäume da drüben? Ständig sieht man dort diese merkwürdigen Gestalten. Sind mir ganz und gar nicht geheuer, diese Typen – wenn Sie wissen, was ich meine.
Bei den Polizisten, die in roten Jacken und mit schwarz-gelben Stäben in den Händen den Park durchkämmten, handelte es sich um Profis, doch denen war das dichte Gehölz im Umkreis der kleinen Seen ganz und gar nicht geheuer. Trotz des hochsommerlichen Wetters war es zwischen den Bäumen für Londoner Verhältnisse ungewöhnlich dunkel. Die Polizisten munterten sich gegenseitig auf und witzelten, dass sie in dem Dickicht vermutlich jeden Augenblick auf einen Allosaurus stoßen würden, doch in
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