Die Behandlung: Roman (German Edition)
kleiner Junge gefunden worden wäre. Er klebte sich die letzte Post-it-Nachricht an den Finger und starrte geistesabwesend auf das Papier. Wo konnte der kleine Rory Peach nur abgeblieben sein? Und gab es vielleicht irgendwo Fotografien, auf denen das Verbrechen dokumentiert war? Ein Blitzlicht. Das Surren einer Kamera. So etwas konnte man sich doch nicht einfach einbilden. Oder hatte Carmel sich das vielleicht nur ausgedacht? Aber falls sie die Wahrheit gesagt hatte, dann war es immerhin möglich, dass Alek im Wohnzimmer von den Fotoaufnahmen nichts mitbekommen hatte, weil der Fremde seine Fotos vorne im Gang gemacht hatte. Was, zum Teufel, kann jemand mit Fotos von einem blöden Hausflur anfangen?
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und seufzte. Ihm fiel einfach nichts mehr ein. »Wenn wir von dem Kerl wenigstens die DNS hätten, dann könnten wir in dem Viertel einen Reihentest durchführen.«
Souness blickte auf. »Richtig. Wenn wir eine Leiche hätten, dann dürfte es eigentlich nicht sehr schwierig sein, DNS zu beschaffen.«
»Und wie gehen wir jetzt weiter vor?«
»Ach, Jack, das wissen Sie doch selbst genauso gut. Noch mal ausführlich mit Peach sprechen, falls die Ärzte es erlauben, ein exaktes Opferprofil und die Ausweitung unserer Fahndungsaktivitäten und …« Sie hielt inne. »Den Park samt Umgebung können wir jedenfalls erst mal vergessen …« Noch bevor sie ihn mit der erhobenen Hand beschwichtigen konnte, holte Caffery tief Luft. »Ich weiß, ich weiß, die Idee gefällt Ihnen nicht …«
»Stimmt haargenau – ich glaube nämlich weiterhin, dass wir ihn irgendwo dort finden. Wie hätte der Kerl denn den Park mit einem strampelnden Kind verlassen sollen, ohne dass ihn jemand dabei gesehen hätte?«
»Und wenn das Kind nun einfach neben ihm hergegangen ist?«
»Niemand hat den Jungen gesehen. Außerdem fehlt keines von Rorys Kleidungsstücken. Er muss also nackt gewesen sein.«
»Und wenn der Täter Kleider mitgebracht hat?«
»Rory hat geblutet und stand unter Schock – ich kann mir das einfach nicht vorstellen.«
»Aber im Park ist er nicht.«
»Nein«, räumte Caffery ein und tastete mit der Hand nach der Reisetasche unter dem Schreibtisch. Er brauchte jetzt unbedingt einen Drink. »Sieht nicht so aus.« Er brachte eine Flasche Scotch zum Vorschein und sah Souness an, doch die schüttelte bloß den Kopf.
»Nein.« Sie drückte auf die Maustaste und ließ ihren Bericht nebenan im Büro ausdrucken. Dann stand sie auf, streckte sich und sah auf die Uhr. »Schon verdammt spät. Ich muss mich unbedingt ein paar Stunden aufs Ohr hauen.«
Sie ging nach nebenan, um den Kollegen je eine Kopie ihres Berichts in das Fach zu legen, sodass Caffery ein paar Minuten allein war. Er hielt die Flasche in der Hand und betrachtete seine Augen, die sich vor dem Hintergrund der Croydoner Hochhäuser im Fenster spiegelten. Und wie sollte es weitergehen, wenn Rebecca Recht hatte – wenn jeder, der ihn aus der Nähe betrachtete, in seinen Augen die gefletschten Zähne eines Killers sehen konnte?
Wenn du nicht endlich die Kraft aufbringst, von hier wegzuziehen, wenn du dich jetzt wieder in einen Fall verrennst, der sämtliche Sicherungen in dir durchknallen lässt, dann wirst du es wieder tun – einfach so: Peng!
Er hatte die Tasse halb voll gegossen, leerte sie in einem Zug und starrte sein Gesicht und seinen grünen Schlips an, den er wie einen Schal um den Hals gehängt hatte.
… Du wirst es wieder tun.
Nein, sie irrt sich, dachte er. Sie sagt das bloß, damit ich aus dem Haus ausziehe. Als Souness schließlich zurückkam, drehte er sich um und sah sie an. »Danni?«
»Ja, was?«
»Was hat sich vorhin eigentlich abgespielt? Ich meine, wieso hat Peach das mit meinen Augen gesagt?«
»Hm – keine Ahnung.« Sie zuckte die Schultern und beugte sich über ihren Computer, um das Gerät auszuschalten. »Sie wissen doch, wie die Leute in solchen Situationen reagieren – wahrscheinlich leidet er unter posttraumatischem Stress. Wollte vielleicht lieber mit einer Frau reden – selbst mit einer hässlichen alten Lesbe.« Sie richtete sich wieder auf, schlüpfte in ihre Jacke, sah ihn lächelnd an und klopfte ihm auf die Schulter. »Mit Ihren Augen ist alles in Ordnung, Jack, glauben Sie mir. Fragen Sie doch einfach eine der jungen Kolleginnen, ob mit Ihren Augen irgendwas nicht stimmt, dann werden Sie schon die richtige Antwort erhalten.« Sie hustete, streckte sich und strich sich mit den Händen
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