Die Beichte - Die Beichte - Dirty Secrets
anonyme Brief oder die hereinbrechende Nacht.
Sie schüttelte das Gefühl ab. Es war Halloween. Nicht die richtige Zeit für morbide Anwandlungen. Sondern für ghulische Verwandlungen. Sie stieg hinauf, um ein passendes Kostüm herauszukramen.
Kurz darauf klingelte es an der Tür. Jo trabte die Treppe hinunter und zupfte nach einem schnellen Blick in den Flurspiegel noch einmal ihr Haar zurecht. Dann machte sie auf.
»Trick or treat …« Gabe verstummte.
Jo schwenkte den Arm. »Hereinspaziert.«
Sophie starrte sie gebannt an. »Bist du ein Zombie?«
Jo ließ den Kopf baumeln. »Ein Zombie-Doktor.«
»Toll.«
Jo zog die Zunge zurück in den Mund. »Vielen Dank.«
Sie traten ein. Sophie hatte die braunen Augen weit aufgerissen. »Der falsche Arm sieht aus, wie wenn er dir mitten am Rücken hängen würde. Wie hast du das geschafft?«
»Ich hab die Ärmel von einer alten Arztjacke mit Socken ausgestopft. Unten hab ich einen Gummihandschuh festgemacht. Vielleicht auch zwei.«
Gabe lächelte. »Ach, deswegen die dreieinhalb Finger. Das Make-up steht dir.«
»Gangrän von Dior.«
Er übernahm den Stab. »Ideal für den grünlichen Teint.«
»Das Beste, was es gibt für eine Seelenklempnerin.«
Sein Lächeln wurde breiter.
»Kann ich auch ein Zombie sein?«, meldete sich Sophie.
»Natürlich.« Jo deutete in die Küche. »Aber zuerst die Suppe. Sie steht schon auf dem Herd.«
Munter wie ein Kobold hüpfte Sophie voraus.
»Danke«, sagte Gabe. »Ihre Mom hat ihr ein politisch korrektes Kostüm besorgt. Eine Aubergine oder so. Das hier rettet ihr den Tag.«
Sie gingen in die Küche, und Jo schöpfte Nudelsuppe in eine Schale. Als Sophie am Tisch Platz genommen hatte, sagte sie: »Kannst du mich und deinen Dad bitte für ein paar Minuten entschuldigen?«
Ihre Kehle war plötzlich völlig ausgetrocknet. Hinter der Ghul-Schminke und dem Kajal war ihr Gesicht bestimmt knallrot. Sie traten durch die Terrassentür und stellten sich unter den Magnolienbaum. Die Zweige schwankten im Nachtwind.
Jo verschränkte die Arme, es war kühl. »Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll, also leg ich einfach mal los. Deine Worte heute Nachmittag haben alles umgeschmissen, was ich bisher geglaubt habe.«
»Ich wollte dich nicht aufregen.«
»Gabe, du hast mir den Boden unter den Füßen weggezogen, und wenn du mich nicht aufgefangen hättest, wäre ich in einen Abgrund gestürzt.« Sie schaute ihn an und wusste, dass sie nicht an der Wahrheit vorbeikonnte. »Manche Nägel tun einfach weh, wenn man sie auf den Kopf trifft. Das mit dem hippokratischen Eid war für mich wie eine Ohrfeige.«
»Jo, das hätte ich nie sagen dürfen.«
»Nein, du hattest recht. Ich habe mich tatsächlich versteckt. Nach dem Hubschrauberabsturz hatte ich Schuldgefühle, und ich hab mich geschämt.«
»Aber warum denn? Du hattest doch schon genug Schmerzen. Niemand hat dich für Daniels Tod verantwortlich gemacht. Jo, selbst wenn du nicht die Klippe runtergeklettert, sondern einfach oben geblieben wärst, hätte dir niemand was vorwerfen können. Dass du das getan hast, war unglaublich mutig von dir. Du hast dein Leben aufs Spiel gesetzt, um die anderen zu retten.«
Sie senkte den Blick und verbot sich, Halt in Tränen zu suchen. »Alle meine Vorstellungen von mir selbst haben ihre Gültigkeit verloren. Ich wollte mich ganz klar sehen, ohne Illusionen.« Und das kann ziemlich grausam sein. »Zuallererst: niemandem Schaden zufügen. Das ist für mich jetzt das oberste Gebot.«
»Ich wollte dir nicht wehtun mit der Bemerkung, dass du dich von den Lebenden abgeschottet hast.«
»Psychologische Autopsien sind eine wertvolle Arbeit. Du bringst etwas über die Motive der Toten in Erfahrung und hilfst den Hinterbliebenen dabei, herauszufinden, was den Menschen zugestoßen ist, die sie geliebt haben. Das ist ein Privileg und eine große Verantwortung.«
»Warum hast du dann das Gefühl, dich vor dem Leben zu verstecken? Wenn es nicht so wäre, würdest du das ja nicht so betonen.« Als sie schwieg, übernahm er selbst die Antwort. »Weil es in der forensischen Psychiatrie keine Entscheidungen über Leben und Tod gibt. Es gibt nur Geschichte.«
Du bist Teil meiner Geschichte , dachte sie. Sie standen nah zusammen, und sie spürte eine pulsierende Wärme zwischen ihnen. Gleichzeitig fühlte sie tief in ihrem Inneren einen großen Schmerz und sehnte sich danach, ihn loszulassen. Sie wollte den inneren Widerstand aufgeben und sich sagen
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