Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
ganzes Leben so weitergehen.
Lynn hätte sich diesen Beruf nie ausgesucht. Aber nachdem ihre schulischen Leistungen eher mangelhaft gewesen waren, war an ein Studium nicht zu denken. Lynn malte sich öfter aus, wie es gewesen wäre, wenigstens im Beruf Erfüllung zu finden. Sie hätte Geschichte, Archäologie oder Germanistik studieren können. Sie hatte schon öfter über verpasste Chancen nachgegrübelt und war von Therese mehrmals dafür gerügt worden. Therese meinte, sie hätte noch immer die Gelegenheit, etwas aus sich zu machen, da sie ungebunden war und auf niemanden Rücksicht nehmen musste. Doch Lynn fehlte die Energie um etwas Neues anzufangen. „Dann jammere nicht herum.“ Das hatte ihre Freundin schon oft zu ihr gesagt und wenn Lynn ehrlich zu sich selber war, hatte auch völlig Recht damit.
Doch Jammern schien die leichteste Lösung zu sein. Lynn war sich der Tatsache bewusst, dass sie die leichteste Lösung im Normalfall der richtigen vorzog. Sie wünschte, sie wäre mehr wie Therese. Ihre Freundin stand mit beiden Beinen fest im Leben, tat was getan werden musste und hielt weder sich selbst noch andere mit Gejammer auf.
Dieser Arbeitstag verging irgendwann doch, so wie jeder andere Tag davor. Lynn packte ihre Sachen und fuhr nach Hause. Sie nahm sich vor, sich in Zukunft besser auf die Arbeit vorzubereiten, vor allem dann, wenn ein Meeting auf dem Tagesplan stand. Gute Vorsätze hatte sie oft, die Charakterfestigkeit, sie auch durchzuziehen meistens nicht. Sie beschloss, den Tag ruhig ausklingen zu lassen. Ein wenig fernsehen, vielleicht ein Glas Wein. Lynn freute sich schon darauf. Zu Haus kümmerte sie sich erst einmal um Merlin.
Lynn ging unter die Dusche. Wie immer seifte sie ihren Körper ein und spülte das Duschgel ab. Diese Prozedur wiederholte sie mehrmals. Sie hatte auch direkt nach der Dusche nie das Gefühl, sauber geworden zu sein. Sie schrubbte so fest sie konnte und hatte dennoch ihren eigenen unangenehmen Geruch in der Nase. Ihr Körper dünstete immer etwas Widerliches aus.
Endlich verließ sie das Bad mit frisch gewaschenen Haaren, um die sie ein Handtuch wie einen Turban gewickelt hatte. Eingehüllt in ihren dicken Bademantel setzte sie sich auf die Couch und wollte gerade den Fernseher aufdrehen als sie einen Zettel auf dem Tisch liegen sah.
Neugierig nahm sie das Blatt Papier, sie konnte sich nicht erinnern, es hierher gelegt zu haben. Sie faltete es auseinander und las:
„Hi, ich war heute hier und habe einige Zeit auf dich gewartet, du warst aber anscheinend arbeiten. Ich melde mich bald wieder. Cedric“
Die Handschrift war ziemlich chaotisch und gerade noch leserlich. Lynn's Hände zitterten. Wie war er in ihre Wohnung gekommen? Sie war ganz sicher, dass sie die Tür in der Früh zugesperrt hatte. Aber er musste irgendeinen Weg gefunden haben, sonst wäre der Zettel nicht da gewesen.
Lynn durchsuchte die ganze Wohnung, aber außer ihr war niemand da. Beunruhigt legte sie die Sicherheitskette vor und ging ins Bett. Sie lag ruhig da und lauschte auf jedes Geräusch, Adrenalin schoss durch ihren Körper. Das letzte Mal sah Lynn um zwei Uhr Früh auf die Uhr. Sie sollte dringend noch ein wenig schlafen, um den morgigen Tag im Büro durchzustehen. Während sie darüber nachdachte, musste sie endlich eingeschlafen sein.
Lynn träumte: Sie stand vor einem Spiegel und beobachtete ihr eigenes Spiegelbild, das damit beschäftigt war, sich eine Hautschicht nach der anderen vom Körper abzuziehen. Sie häutete sich wie eine Schlange. Nach jeder Schicht dachte Lynn, sie würde damit aufhören, es schien jedoch nie genug zu sein. Nach einiger Zeit schimmerten die Muskelfasern, das Fettgewebe und die Blutgefäße durch die dünn und pergamentartig gewordene Haut. Ihr Spiegelbild zog auch diese letzte Schicht ab und warf sie Lynn lachend entgegen.
Lynn wachte mit einem Ruck auf. Sie fühlte sich ekelhaft, ihr T-Shirt war völlig durchgeschwitzt, sogar ihr Bettzeug war feucht. Lynn kämpfte sich unter der Decke hervor und wankte ins Bad. Sie hatte vor der Arbeit noch genug Zeit für ihre Duschprozedur. Sie hasste es zu schwitzen, sie fand, dass ihre Ausdünstungen dann noch viel penetranter waren, sie stank förmlich aus jeder einzelnen Pore ihres Körpers.
Nach der Dusche fühlte sie sich wenigstens ein wenig besser und machte sich für die Arbeit fertig. Lynn sah auf ihr Handy, um zu sehen wie spät es war. Mist, wieder mal kein
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