Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
meint?“ fragte er. Lynn verneinte: „Er hat gesagt, dass ich das bald verstehen würde. Momentan kann ich damit nichts anfangen. Oder ist das vielleicht seine Art, mir mitzuteilen, dass er mich mag?“
„Kann schon sein.“ Dr. Wögerer machte sich ein paar Notizen. „Und wie sehen Sie das, wie geht es Ihnen dabei?“ Lynn kratzte sich am Kopf. „Ich verstehe es nicht. Ich kann nicht begreifen, was er an mir findet. Ich warte nur auf den Moment, wenn er mich ansieht und begreift, was ich bin.“
„Und das wäre?“
„Nichts. Nicht so wie andere Menschen. Nutzlos, unwert, irgendwie unrein.“ Lynn machte eine hilflose Geste.
„Unrein?“ hakte er nach.
„Jeder Millimeter Haut ist ekelhaft, ich kann da schrubben und waschen so lange ich will, das wird nicht besser. Es ist die Tatsache, dass ich es bin. Das wertet alles in meiner Umgebung ab. Kennen Sie den Spruch der Marx Brothers? Ich würde nie Mitglied in einem Club sein wollen, der jemanden wie mich aufnehmen würde.“
„Und warum denken Sie, sind Sie anders? Was unterscheidet Sie denn von einem 'normalen' Menschen?“ Er klang konzentriert.
Lynn versuchte, es zu erklären: „Es ist das 'Ich'. Ich mag nicht einmal Bücher in Ich-Form weil es dann wieder etwas mit mir zu tun hätte. Wenn ich mich in den Hauptprotagonisten hineinversetze, beschmutze ich ihn oder sie mit meinem 'Ich'. Das eigene 'Ich' ist schlecht. Ich meine natürlich nicht das Ego allgemein, nur meines. Es ist besudelt, einfach schon von Anfang an unnatürlich. Anscheinend bin ich gar nicht so schlecht darin, diesen Kern, dieses widerliche 'Ich' vor anderen zu verstecken. Aber irgendwann fliegt das auf, das wird passieren. Und dann bin ich alleine, ganz so wie es eigentlich sein soll.“
„Visualisieren Sie das einmal, wie sieht das 'Ich' in ihrem Inneren aus?“
Lynn seufzte. Das war wirklich schwer, sonst versuchte sie meistens, solche Gedanken auszublenden. „Das ist wie ein großer Klumpen grüngelblicher Schleim. Oder nein, eher wie ein Krebsgeschwür, das sich immer weiter ausbreitet. Es frisst sich in jede einzelne Körperzelle, nimmt vollständig Besitz von mir. Ich kann mir selbst nicht ausweichen. Wenn ich das könnte, würde ich es tun.“
„Und sie denken, dass andere Leute sich nicht so fühlen?“
„Nein, die anderen sind normal. Die meisten sind sauber, nützlich und leben ein Leben wie es sein soll.“ Dr. Wögerer räusperte sich: „Ich finde es erstaunlich, dass Sauberkeit so ein Thema bei Ihnen ist. Was glauben Sie, woran das liegt?“
„Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“ Sie sah ihn fragend an. „Haben Sie nicht einen Tipp für mich?“ Er meinte: „Das kann ich Ihnen ad hoc nicht sagen, da müssen wir viel tiefer graben. Kann sein, dass da etwas aus ihrer frühen Kindheit wieder hochkommt. Haben Sie Erinnerungen an das Thema Sauberkeit, sagt Ihnen das etwas?“
Lynn überlegte: „Eigentlich nicht. Ich kann mich auch nur dunkel an diese Zeit erinnern. Vielleicht sollte ich einmal meine Mutter fragen, eventuell weiß sie ja etwas.“
„Tun Sie das. Wir reden dann das nächste Mal darüber. Unsere Zeit leider schon vorbei. Machen wir uns gleich einen neuen Termin aus?“
Lynn war nicht sicher, ob sie einen weiteren Termin wollte. Dieses Wühlen in ihren Gedanken strengte sie sehr an und sie fühlte sich dabei sehr unbehaglich. Sie stimmte jedoch einem Termin zu, um Diskussionen zu diesem Thema auszuweichen. Sie konnte ihn immer noch absagen und sich um die direkte Konfrontation herumdrücken.
Sie fuhr nach Hause und legte sich auf die Couch und starrte an die Decke. Sie versuchte, ihren Kopf frei zu bekommen. In ihrem Gehirn summte es wie ein Bienenschwarm. Von dem guten Gefühl nach der Arbeit war nichts mehr übrig geblieben. Lynn fand, dass das Herumgraben in ihrer Psyche sie extrem viel Kraft kostete. Kraft, die sie nicht hatte. Lynn bekam Kopfschmerzen. Sie musste sich irgendwie ablenken.
Lynn rief bei Therese an. „Hallo, wie geht’s dir?“ Therese klang ein wenig gehetzt. „Was ist denn bei dir los?“ wunderte sich Lynn. „Nicht so schlimm, aber man hat bei mir eingebrochen als ich gestern geschlafen habe. Ich habe es erst in der Früh bemerkt. Irgendjemand hat sich in der Nacht Zugang zu meiner Wohnung verschafft, hat aber nichts geklaut. Nur komischerweise hat der Einbrecher alle meine Fotos heraus gezerrt und zerrissen. Die Polizei meint, dass
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