Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern
kleiner Junge passiert ist.«
»Hmm. Na gut.« Er aß ein paar Spaghetti und dachte über eine Geschichte nach. »Als ich zwölf war, ließ mich meine Mutter endlich allein zur Schule gehen. Sie war nur drei Straßen weiter, aber bis zu diesem Tag hatte sie mich immer hingebracht und abgeholt.«
»In welchem Stadtteil habt ihr gewohnt?«
»Greenwich Village. Dort ist es im Vergleich zu anderen Stadtvierteln in New York wirklich sicher. Es ist nicht wie West-Baltimore oder selbst diese Gegend hier. Doch als ich klein war, war es dort noch nicht ganz so nobel wie heute.«
Er machte eine Pause, um einen Schluck Sprudel zu trinken.
»Also, ich war zwölf und ich durfte zum ersten Mal allein in die Schule gehen, und da rannte plötzlich eine Frau schreiend aus einem Wohnhaus. Sie war voller Blut. Bis auf ›Hilfe! Hilfe!‹ hab ich kein Wort verstanden. Ich blieb wie angewurzelt auf dem Gehweg stehen. Vor Angst hab ich mir fast in die Hosen gemacht.«
»Hatte sie jemanden umgebracht?«
»Keine Ahnung. Ich rannte zum Zeitungsstand an der Ecke und bat den Verkäufer, die Polizei zu rufen. Als der Streifenwagen kam, gingen die Beamten mit der Frau ins Haus. Mir befahlen sie, zur Schule weiterzugehen. Also ging ich eben zur Schule. Ich bekam dort Ärger, weil ich zu spät kam, und sie riefen meine Mutter an, um sie zu informieren. Sie war echt sauer. Der erste Tag, an dem ich allein ging, und prompt war ich zu spät.«
»Eltern konzentrieren sich immer auf die belanglosesten Dinge! Hast du je herausgefunden, was mit der Frau war?«
»Es kam abends in den Nachrichten. Wie sich herausstellte, stammte sie aus Indonesien und war als Haussklavin hierher verschleppt worden. Sie musste Tag und Nacht schuften, bekam nur Grütze zu essen und sie durfte niemals aus dem Haus. Irgendwann hatte sie genug und versuchte, das Paar, das sie gefangen hielt, mit einem Tranchiermesser umzubringen. Doch es gelang ihr bloß, der Frau des Hauses die Hand abzuhacken.«
»Igitt!« Instinktiv umfasste ich meine eigene Hand, wie um mich zu vergewissern, dass sie noch da war.
»Ja. Nach diesem Vorfall ließ mich meine Mutter nicht mehr allein zur Schule gehen. Ein ganzes Jahr durfte ich nirgendwo allein hingehen.«
»Aber das ist doch lächerlich«, sagte ich. »Diese indonesische Frau war keine Gefahr für dich.«
»Das habe ich Mom zu erklären versucht, aber bei dem Geschrei und dem Blut ist sie durchgedreht.«
»Was ist mit der Sklavin passiert?«
»Sie wurde nach Indonesien abgeschoben und ihre Entführer wanderten ins Gefängnis.«
»Oha.«
»Ja.«
»Bei solchen Geschichten fragt man sich, was wohl im Nachbarhaus so vor sich geht. Versteckt jemand heimlich einen Gefangenen auf dem Dachboden? Lebt jemand in einem Labyrinth aus alten Zeitungen, die er nicht wegwerfen kann? Tüftelt jemand an einer Zeitmaschine?«
Robbie lachte. »Siehst du dieses Fenster dort? Vierter Stock, drittes von rechts?« Er deutete auf eines der erleuchteten Zimmer auf der anderen Hofseite. Das Licht brannte, doch die Jalousie war heruntergezogen.
»Ja?«
»Da wohnt ein Mädchen, das oft ein orientalisches Kostüm anzieht und herumtanzt.« Er stand auf, wirbelte durch die Küche und schwenkte dabei die Arme. »Spätabends, immer mal wieder. Wenn sie nicht ihren Orienttanz aufführt, hat sie die Jalousie geschlossen.«
»Ist das eine Art Zaubertanz?«
Robbie zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Auf jeden Fall scheint sie zu wollen, dass die Leute sie in diesem Kostüm sehen.« Er nahm einen Topf vom Herd. »Noch mehr Hackfleischsoße?«
»Nur noch einen Löffel, bitte. Die ist köstlich.«
»Danke.« Er löffelte Soße über meine Spaghetti. »Ich kann auch ein tolles Shrimps-Risotto. Das Rezept stammt von Dad.« Er reichte mir erneut das Knoblauchbrot. »Jetzt musst du eine Geschichte erzählen.«
»Gut.« Ich beschloss, ihm eine Geschichte zu erzählen, die ich noch nie jemandem erzählt hatte. »Einmal wollte Dad mit St. John und Sully am Wochenende segeln gehen. Sie hatten vor, um die Chesapeake Bay zu segeln und zu fischen und auf dem Boot zu schlafen. Jane, Sassy und ich protestierten – es war ungerecht. Wir wollten mitkommen. Doch auf dem Boot war nicht genug Platz für uns alle, außerdem sollte es so ein Vater-Sohn-Ding sein. Das war vor Takeys Geburt.
Also schlug Ginger vor, dass wir uns ein lustiges Mädchenwochenende machen sollten. Sie würde mit uns nach New York fahren. Wir würden eine Suite im Pierre nehmen und uns Shows
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