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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Hochzeit, es war Studentenleben kurz nach Kriegsende und dem Jahre Null. Und dieses Wochenende feiern wir Brigittes 70. in Valéries Haus in Baden, übermorgen fahre ich hin.
    Ich bin arbeitsmäßig in einem Engpass. Komme mit dem Klee (Auftrag von Professor Maurice Müller, berühmter Hüftgelenkchirurg) nicht recht vom Fleck und kann nicht zurücktreten, da das Buch bevorschußt ist. Ich trete auf der Stelle, und dies schon bald zwei Jahre. Habe das Fell der Forelle auf Eis legen müssen. Das Jahresende ein Schreckgespenst. Da ist noch das Projekt zusammen mit Colette für Pauvert, ein vierhändiges Rombuch, um den wunden Punkt von Salve Maria kreisend, ebenfalls bevorschußt, Abgabetermin überschritten. Da ist ein Text über Robert Schumann fällig, für eine Plattenedition, Kassette von Actes Sud. Da ist ein Text über Hans Josephsohn für eine Publikation des Aargauer Kunsthauses mit Arbeitstitel »Das wilde Sehen«, wo an die 70 internationale Schriftsteller über ein ein
zelnes Werk der museumseigenen Sammlung von Schweizer Kunst, der angeblich größten im Lande, einen freien Text zu verfassen eingeladen sind. Abgabetermin 1. Dezember. Ich bin von all diesen Arbeitsvorhaben wie in Stücke gerissen oder wie mit Stricken gefesselt; in eine Immobilität gerammt. Ist die Immobilität Angststarre? Die Angststarre hat auch mit dem Alter oder mit Todesfurcht zu tun. Zwar laufe ich wie eh und je erregt und unternehmungslustig quer durch Paris unterwegs zum Atelier und abends zurück, zwar fahre und fliege ich zu Lesungen und derlei Anlässen auf Reisen und nicht selten hochgestimmt; doch dann sagt mir mein Verstand mein Alter, nennt mir die gestundete Zeit, und ich mit meinem Trödeln und leichtsinnigen Zeitverlieren angesichts des Alters, der gestundeten Zeit, was Wunder, daß mich Panik überfällt. Kommt hinzu, daß das angelaufene Scheidungsverfahren mich mit Einsamkeitsängsten und Hilflosigkeitsdrohungen anficht, die ich spazierender-, das heißt weglaufenderweise überspiele, ich laufe de facto ja in eine Sackgasse. Aus der mich nur die Arbeit hinausführen könnte, wenn sie mich nicht dermaßen mit unüberwindlichen Mauern der Mutlosigkeit umstellte. Nicht aus noch ein wissen.
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    Und was die Forelle anbelangt, so handelt es sich natürlich um Odile, die Geliebte, die mir immer entwischt ist, nie zu halten war, nicht zu bergen, nur in totem Zustand zu besitzen. Und was das Fell betrifft, so entspricht dieses Bild meinem Verlangen, sie einzuhüllen, zu beschützen, zu wärmen und zu pflegen – zu domestizieren? War das der Fehler? Kann man eine Forelle heiraten?
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    Traum . Ich stand – neben Odile? – an einem Fenster mit Blick aufs Meer und Klippen, Kreidefelsen (könnte von Fécamp inspiriert sein) und sah einen großen vollbesetzten Wagen die Felsenklippe herunterfahren und dies in einem Neigungswinkel, der nur Unheil versprechen konnte; und entsprechend gebannt und entsetzt sah ich der mörderischen Fahrt zu. Es gab natürlich kein Anhalten, Ausweichen, Abzweigen, es endete unausweichlich in der Katastrophe: Der große Wagen stürzte mit seinen Insassen kopfüber ins Meer. Wir blieben erstarrt am Fenster, zufällige Zeugen eines schrecklichen Unfalls. Nur daß da unten auf dem Meeresgrund – das Wasser war glasklar wie Trinkwasser – die Passagiere unbehelligt, soviel wir sahen, ausstiegen, als sei nichts geschehen und dahinzuschlendern begannen, müßige Spaziergänger, die sich im Schlendern unterhielten. Und nun gewahrten wir, am Fenster mit einem Blick aufs Meer und die Felsen, daß der Meeresgrund von Spaziergängern, Müßiggängern wimmelte; da unten war ein Treiben wie auf einem Bild von Brueghel, nur eben unter Wasser, die Leute ergingen sich fröhlich plaudernd in Gruppen, aber wohin?
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    Gestern sehr spät nachts noch einen Dokumentarfilm über Cassavetes gesehen mit Gena Rowlands, Seymour Cassel, Peter Falk, Ben Gazzara u. a. nebst Ausschnitten aus verschiedenen Filmen. Da war zum einen die tiefe Zuneigung aller zu diesem charismatischen »Bandleader« hätte ich beinahe gesagt, weil sie alle zusammen offenbar so etwas wie eine Bande, Freundesbande waren, Familie? etwas von Brüderlichkeit atmeten alle Bezeugungen und dann daß ein jeder sich von Cassavetes geprägt fühlte. Alle

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