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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Stifterschen Naturbeobachtungen, wenigstens für mich. Ist der Text nicht in einer Art Prophetensprache geschrieben? Der Mann ist wirklich ein sittlicher Lehrer, Erzieher.
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    Zurück aus Rußland. Bin aus St. Petersburg vorgestern um 16 Uhr Ortszeit abgeflogen und am Abend hier angekommen und mit Odile essen gewesen. Hier war es ziemlich kalt, in Petersburg während unseres Kurzbesuchs eine Art Wärmeeinbruch, das heißt über null Grad und Sonnenschein, so daß die in der Newa aufgeworfenen Eisschollen – wie von Caspar David Friedrich akribisch horrifiziert – im hellen Licht emporstarrten und die herrlich farbigen Fassaden der vielen vielen Paläste, an den Kanälen liegenden und darum nicht nur wie vom Wasser getragenen, sondern wie über Wasser schwebenden Fassaden und Kirchen zauberisch, vor allem leicht und apart in Erscheinung traten. Es ist soviel Raum in dieser Stadt, Lichtraum, natürlich des Wassers wegen, die Stadt ist ja fast wie Venedig eine Wasserstadt und nicht recht auf festem Grund. Ich frage mich die ganze Zeit, ob es wirklich der Panzerkreuzer Potemkin war, der da ankerte in diesem Grauton, der uns von den Kriegsspielzeugen oder besser den Spielzeugpanzern und -panzerschiffen vertraut ist und mit den ebensolchen nicht ganz ernst zu nehmenden Kanonen und Kanonenrohren. Aber auf dieser Stadtrundfahrt habe ich nur panoramisch oder schweifenden oder verhangenen Auges hingeschaut, ich sagte mir, es ist wunderbar und ich werde ja wiederkommen, es muß jetzt nicht alles gleich wie für immer sein. Dachte, diese vielen Kirchen hier in Rußland sehen wie Gruppen von eng zusammenstehenden Mütterchen unter geblähten Zipfelmützen aus, es ist eine andere Religiosität, eine in der Dimension des Massenchors, und innen sind die sakralen Räume fast bis zum Ersticken bunt bemalt wie Ostereier mit all den Ikonen, es ist wiederum eine hitzige Frömmigkeit, und dann liegen in Reihen die zaristischen Sarkophage da, und das Zarentum ist überhaupt immer allgegenwärtig, volksnah, und manchmal grausam volksnah, und damit muß die ostereibunte Frömmigkeit auch zu tun haben; und die Verschickten, nach
Sibirien Verschickten, in Ketten. Wie Dostojewski, dessen Wohnung ich besucht habe. Er war mit einer 26 Jahre jüngeren Frau verheiratet, wie ich, und hat eine Anzahl Kinder mit ihr gezeugt, wovon deren einige starben. Er hat seiner Frau immer viele verliebte Zettelchen zugeschoben und kleine Aufmerksamkeiten erwiesen, er war eben verliebt. Und er war brünstig bibelfest, die Bibel die einzige erlaubte Lektüre in der sibirischen Verschickung und Gefangenschaft, und warum kam mir seine Wohnung, die im Unterschied zu der gräflich tolstoischen bescheiden zu nennen ist, wenn sie auch für unsereinen immer noch recht standesbewußt wirkt, zwar eben bürgerlich und nicht aristokratisch, und dennoch ist sie mehr als nur geräumig, in so einer Wohnung dürfte sich Oblomow mehrheitlich liegenderweise aufgehalten haben, nun, warum kam mir die Wohnung vertraut vor bis zu dem Grade, daß ich mir sagte, ich kenne sie, kenne sie von früher her, vom Vater her? Wie denn überhaupt diese kurze Rußlandreise, wie ich eben jetzt erst erkenne, eine Art Heimkehr war, ja, es ist nicht übertrieben, das zu sagen, im Grunde war das Kindheitshaus in der Länggasse ein russisches Haus, um von unserer Familie gar nicht zu sprechen, Vater muß dennoch einiges mitgebracht oder besser transferiert haben, ich könnte fast so weit gehen zu behaupten, ich hätte in manch Russischem das Länggässliche wiedergefunden.
    In Moskau habe ich schon beim Einfahren stadteinwärts vom Flughafen kommend den Puls des riesigen Landes empfunden, der Verkehr hatte das unbekümmerte Ausschwärmen, das nur riesenräumlichen Verhältnissen eigen ist, und verrußt und angeschwärzt waren alle Vehikel, der Puls kräftig, ich liebe die langen Einfahrten durch die namenlosen Vorstadtgebiete oder Einöden und das ganze Aufschieben des Kommenden, Hinausschieben, meine ich. Ich kann jetzt im Falle von Moskau nicht alles Gesehene wiedergeben, wo
zu auch? Ich fand den Bahnhof zur Abfahrt nach St. Petersburg, einen unter acht Bahnhöfen, wenn ich nicht irre, ganz toll und ganz anders als alles Gewohnte, vielleicht weil gerade da sowohl das Vorrevolutionäre wie das Sowjetische, eben das Russische, war, vor allem in den Wartesälen mit all

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