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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sagten sie, sie hätten viel gelacht, in einem ansteckenden Überschwang ohne Seitenblick auf materiellen Erfolg nicht nur gearbeitet, sondern am gleichen Strick gezogen, im Vergleich zu holly
woodischen Usancen irgendwie unprofessionell, dies auch in dem Sinne, daß die einzelnen Sequenzen scheinbar improvisiert gespielt und gedreht worden seien, wenn auch in verschiedenen Varianten. Cassavetes scheint seine Leute zwar motiviert und, wenn ich richtig verstanden habe, bezirzt, aufgemöbelt, konditioniert zu haben, aber nicht richtig eingeweiht, nicht in ein Drehbuchkorsett gesperrt, sondern losgelassen zu haben, bis sie ihr Äußerstes sozusagen blindwütig hergaben. Und hernach hat er das Beste zusammengeschnitten. Dabei habe er sehr wohl ein ausgearbeitetes Drehbuch besessen. Er kitzelte ihre heftigsten Emotionen hervor, sie hatten den Eindruck, sich selber überlassen zu sein, kurzum, alles wirkte wie nicht einstudiert, und für alle war es eine Selbstentdeckung beim Spielen, dies im Gegensatz zu einer Rolle, einer einstudierten und komponierten Rolle.
    Eigentlich war jeder einzelne selber Filmer in diesem Team, es schien keine Rangordnung gegeben zu haben, sie kassierten ja auch nichts oder so gut wie nichts an Honoraren. Aber da war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, diese Euphorie, und alles war auch Spaß und geteilte Freude, geteiltes Leid, geteiltes Risiko. Aber das Herz des Unternehmens war C., es waren sein Pulsschlag, seine Verrücktheit, die das Ganze animierten. Und dieser C. – das bemerkten alle – war überschäumende Lebensliebe und Menschenliebe. Und übrigens drehe sich das ganze Werk um die Liebe, auch um die Schwierigkeiten der Liebe, die Hindernisse, die Qual, bisweilen die Unmöglichkeit – Opening Night , A Woman Under the Influence , Minnie and Moskowitz , Faces , Shadows  …
    Es ist ja auch diese überbordende Vitalität, die unglaubliche Entblößung der emotionalen Vorgänge manchmal bis zum Grade der Unerträglichkeit, was dermaßen unter die Haut geht und mitreißt. Im Glauben (und Ringen) um die Mög
lichkeiten der Liebe, der Freundschaft steckt Cassavetes' Vision oder Utopie oder Engagement und – Humanität. Es gibt keine menschlichere Filmkunst als die seine, sie kommt mit einem Minimum an Fabel aus, sie quillt aus einer unvergleichlichen Reinheit, sie ist komisch und herzzerreißend. Und künstlerisch war sie ein unerhörter Vorstoß in Neuland. Es fiel die Bemerkung, Filme wie Raging Bull und dergleichen seien ohne C. nicht denkbar. Cassavetes schien sozusagen ohne Schlaf ausgekommen zu sein, die totale Selbstverausgabung, Selbstverbrennung? Und hättet der Liebe nicht.
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    Ich bin wie eine wacklige alte Maschine, und mein Hauptgeschäft scheint mir neuerdings die Verarztung. Man denkt ja anders ans Sterben oder an den Ernstfall als früher, in meinem Alter, und der Umgang mit gesundheitlicher Schädigung wird zum erstrangigen Zeitvertreib.
    Igor in seinem Internat. Odile wieder nähergerückt, sie scheint die untere Wohnung, sobald abgetrennt und ihr scheidungsgerichtlich zugesprochen, wieder bewohnen zu wollen. Zur Zeit wenig Spannung zwischen Scheidenden, kein Haß meinerseits.
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    Gestern Scheidung (Dezember 2003). Odile ernennt den Tag und das Ereignis zum zweitglücklichsten ihres Lebens. Der glücklichste: die Heirat März 1980.
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    Zurück aus Turin und von den Weihnachtsfesten bei Valérie in Baden (zusammen mit Igor), zurück aus Italien und der Schweiz.
    Jetzt müssen noch die paar Träume notiert werden. Der schlimmste ging so:
    Die Umstände weiß ich nicht mehr, nur so viel, daß auf einer Art Henkerskarren, ich sage Henker und Karren, weil es sich um ein altmodisches Fuhrwerk handelte und weil auf der Ladefläche dieses Schinderhanneskarrens ein abgezehrtes gottergeben hinfälliges altersgraues richtig sieches Tier auf wackligen Beinen stand, weiß nicht mehr ob Hund oder Pferd, das Fell teilweise kahl oder besser abgefressen, abgeschabt und schwärenbesetzt, es war klar, daß die Fahrt zum Abdecker führte, ins Schlachthaus. Das Schrecklichste jedoch war das Kälbchen, das hinter dem greisen Tier stand und sein Maul in den kotig-blutigen After steckte, sowohl wärme- wie nahrungsuchend, Nähe, Halt und Schutz und Zugehörigkeit suchend. Die Vorstellung des flaumigen Mauls in dem kotigen

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