Die Belagerung der Welt - Romanjahre
wahren Projekten. Und nun hat sie gestern nacht wieder angerufen und erwähnt, sie komme aus einer Mitteilungs- und Einmischungswut gar nicht mehr heraus, sie spreche Leute an, telefoniere in alle Richtungen, nehme alle vergessenen Kontakte auf, sie sei zwar auch beim Arzt und Psychiater ge
wesen, es könne schon manisch-depressiv sein, das heiÃt im Moment manisch, eine Manie, sie finde keine Ruhe, keinen Schlaf mehr, sei aber nicht unglücklich, wobei sie die vorangehende und notorische Schläfrigkeit, Müdigkeit als depressiv denunzierte. Sie stehe stundenlang vor dem Spiegel und probiere immer neue Kleiderkombinationen, das Kleiderkaufen sei schon fast eine ausgewachsene schöpferische Sucht, sie brauche etwa zwei Stunden, um sich zurechtzumachen, bevor sie ausgehe. Sprach davon, wie sie in einem Selbstüberschwang irgendwelchen Leuten in Geschäften über den Mund fahre und sie auf ihren Platz verweise mit der Deklaration, sie sei keine blöde Bürgerin/SpieÃerin, sondern aus der Existenzialistengeneration hervorgegangen, habe als Mädchen in Paris in Kellern Sidney Bechet und Claude Luter erlebt und zu deren Jazz getanzt und alle möglichen inzwischen weltberühmten Künstler gekannt. Sie möchte eine Zusammenkunft der in den fünfziger Jahren in Bern angetretenen Rüdlinger Künstlergeneration planen, habe auch schon einige diesbezüglich angerufen. SelbstbewuÃtsein übersteigertes und Wahn, die eigene Singularität herauszustellen, eine Selbstigkeit, die in ihr seit immer schlummert und ab und zu geradezu brutal hervorbricht, dann wieder einem übertriebenen Weichsein, Verständigseinwollen weicht. Mich fröstelte am Telefon. Sie betont, sie leide nicht, nur daà die Beruhigungsmittel nicht wirkten. Für mich ist es die schreiende Grimasse von Einsamkeit durch Unverstandensein, ein Schub, dachte ich. Offenbar kann Tamara, die Tochter, damit umgehen, sie verhalte sich vernünftig und mit Zartgefühl und sei hilfreich. Sind diese Anrufe Hilferufe an den Bruder? Und ich die letzte Adresse?
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Diese Nacht hat sie von neuem angerufen, um mir mitzuteilen, daà Unseld gestorben sei, ich brauchte einige Zeit, bis ich die Tragweite dieses Satzes erfaÃte. Rief Hörning und danach Elisabeth Borchers an, es hieÃ, die Abteilungsleiter, die Damen und Herren von der täglichen Postkonferenz, Rainer Weiss, Günter Berg etc., seien in der KlettenbergstraÃe und hielten Totenwache. Borchers meinte, er habe wohl schon einen Hirnschlag gehabt, niemand sei wirklich ins Bild gesetzt worden, man habe ihn abgeschottet und nach auÃen nichts über seinen Zustand verlauten lassen, ich fragte mich, wie seine letzte Stunde gewesen sein mochte. Ich schaute Fernsehen und dachte dabei an Unseld, ich war fassungslos, geängstigt, konnte mich nicht zum Zubettgehen entschlieÃen, vermutlich kam ich mir verlassen, im Stich gelassen und ausgesetzt vor, so etwas, er muà also schon eine Vater- und entsprechende Sicherheitsgarantenrolle gespielt haben, wenn wir auch des öftern nicht nur haderten, sondern im Krieg lagen. Er war die Zentralperson meines Schriftstellerlebens, manchmal die einzige oder einzig verbleibende Schutzmacht, wenn er mir auch miÃtraute wie damals in Venedig, als er, Alkohols wegen, eine lange Treppe heruntergefallen war und ich ihn mit Blutspuren zu FüÃen der Treppe im Hausflur liegen sah, es war an seinem 65. Geburtstag, und er hatte eine Anzahl Suhrkamp-Autoren nach Venedig einfliegen lassen, Frisch und Enzensberger und Walser und einige andere, auch den Sohn Joachim, der damals dem Vater den Fehdehandschuh hingeworfen hatte, er meldete den eigenen Macht- und Führungsanspruch an und verlangte, daà der Vater endlich abtrete, wenigstens dem Sinn nach, und daher das Zerwürfnis, der SohnesrausschmiÃ, und Unseld hat es nie wieder gutgemacht, es war wohl Entthronungsfurcht, Ermordungsfurcht wie in alten Königsdramen; damals in Venedig hatte mir Unseld den Torcello-Preis der Suhrkamp-Stiftung zugespielt, eine tolle Summe,
es war nach Erscheinen von Im Bauch des Wals (und in meinen Augen zur Geburt Igors); und als Unseld unten an der Treppe in seinem Blut lag, Handke über ihn gebeugt und seine Hand haltend, murmelte der Verletzte, als ich mich (neugierig) näherte: »Pablo, Du nicht« oder so ähnlich, als wäre ich ein potentieller Verräter oder Feind. Dabei war er häufig in meinen
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