Die Belagerung der Welt - Romanjahre
aus welchem Grundmaterial wohl einiges in die Aphorismen eingegangen sein dürfte. Er war kein wertfreier Wissenschaftler in der Menschenerforschung, er konnte hassen, er war Partei, er war, wie mir sehr bald aufging, eine
moralische GroÃmacht, nicht einfach ein Moralist. Er war der Feind der Dekadenz, das war wohl auch sein Abstand zu Thomas Bernhard und überhaupt zu allem Todessüchtigen und Morbiden, er war ein Lebensmonarch, ein Menschenfreund wenigstens in seiner verantwortungsmäÃigen Ausrichtung, darum auch ein Hasser des Niedrigen, nicht der Schwachen, dies überhaupt nicht, ein Hasser menschlicher Niedertracht.
Er war auch ein groÃer Lacher, nie hämisch, das Lachen war herzerwärmend. Es wurde von vielen bemerkt, wie gut oder besser wie dringlich, nicht nur ermutigend, sondern schon fast magisch sein Zuhören war. In meinem Falle war das Zuhören oder ebendiese gespannte Aufmerksamkeit zungenlösend. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir uns mit Vorliebe Menschen, Personen, erzählt, übertrieben ausgedrückt: Charaktere â wenigstens war das die Zielrichtung des Interesses. Ich habe auch immer sehr viel erzählt oder eben charakterisiert; und von ihm habe ich bei solchen Gelegenheiten manches gehört, das ich später in seinen Erinnerungsbüchern nachlesen konnte. Ich glaube, er ging in meinem Falle so weit, mir eine Begabung für Figurenzeichnung attestieren zu wollen, was mich darum erstaunte, weil ich mich für einen Erzähler nicht nur ohne nennenswerte Handlung, sondern auch ohne markante Figuren hielt; mein Interesse lag anderswo, nämlich in dem, was die Franzosen heute das Autofiktionale nennen. Und natürlich im Sprachkünstlerischen. Er sah sich diesbezüglich als einen anspruchslosen Schreiber, ich meine, natürlich war er kein auffallender Sprachmensch, wenn man von seinem dramatischen Temperament absieht, von dem, was er als Sprachmaske bezeichnet, er war, wie mir bald einmal aufging, darum nicht weniger Stilist. Er schrieb eine blanke klare rasche Prosa, eine reine Münze. Es war neben dem Verschwenderischen, dem abwägend Prüferischen, der Grenzenlosigkeit
seiner Interessen, seiner Neugierde und Lebenslernfähigkeit, der Ãberzeugungskraft seiner Werturteile, seinem tiefen Wissen auch etwas Koboldisches in seinem Wesen und natürlich, was ich lange übersah, auch das Abgründige. Ich sah ihn nämlich â und das war eine von meiner Verehrung diktierte Halbblindheit â lange als einen Kopf ohne Leib, vor allem ohne Unterleib, als eine Art direkt der Stirne des Zeus entsprungenen Streiter mit dem Schwert; und übersah die innere Schlangengrube. Vermutlich wollte ich ihn so sehen. Ich kann nicht sagen, daà mir die Enthüllungen in dem posthum erschienenen Erinnerungsband Party im Blitz das Canetti-Bild verschmierten, im Gegenteil, sie machen mir den vermutlich idealisierten, aus den menschlichen Niederungen herausgehaltenen oder besser ausgesparten Dichter letzten Endes glaubhafter.
Als ich ihn 1964 kennenlernte, zufällig, in der »Kronenhalle« in Zürich war es, war er nicht nur mir, sondern so gut wie jedermann im deutschen Sprachraum unbekannt. Als erstes las ich Die Blendung, danach Masse und Macht . Ersteres ein Jugendwerk und vielleicht ein Jahrhundertroman, letzteres eine polydisziplinäre, absolut eigenwillige Privatforschung unter Beiziehung von Mythen, Sagen und jeder Art von Menschheitszeugnissen, »um das Jahrhundert an der Gurgel zu packen«, wie er sagt, zumindest in der für eben das Jahrhundert zentralen Problematik des Massenphänomens (mit dem sich auch schon Hermann Broch befaÃt hatte). Ich las Die Blendung einigermaÃen hingerissen, wenn mir das Allegorische oder besser das tendenziöse Arrangement wesensmäÃig eher fremd war. Was mich überraschte, aber zu Canettis Ãbertreibungshang paÃte, war die Bemerkung, daà Die Blendung als erstes Buch eines auf acht Bände angelegten Zyklus konzipiert war. Was mich heute noch ebenfalls erstaunt, ist das Heterogene dieses Werks: ein einziger Roman, drei Theaterstücke, das philosophisch sozioanthro
pologische Grundlagenbuch ( Masse und Macht ), das mit den Fachwissenschaften umgeht wie ein Rechner, der sich im Zeitalter der raffiniertesten Computertechnik mit etwas wie dem Zählrahmen den heikelsten, weil vielschichtigsten Problemen nähert und u.âa. der ganzen
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