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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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dem Sack und Pack, wie soll ich sagen, man spürt, daß es sich nicht um Reisende wie bei uns, nicht um Vergnügungsreisende, sondern um Nomaden handelt, man spürt die Distanzen und Weiten und das Sich-Einrichten in diesen Riesendimensionen, das andere Unterwegssein, spürt es aus den Ballen des Begleitgepäcks, der Bekleidung, dem Benehmen. Und auch die kleinen Läden und Verköstigungsstände sind anders, der Alltag weitet sich in seiner Gräue gewissermaßen ins Mystische. Und schön war die sechsstündige Eisenbahnfahrt von Moskau nach St. Petersburg, eine Art Reisewohnen oder doch ein Vorgeschmack davon, mit all den Gratisverköstigungen, der überhitzten Temperatur, den russischen Komikerfilmen im Fernsehen.
    Ja, das Tolstoi-Wohnhaus in Chomowniki mitsamt Garten und Nebengebäuden (im Garten eine Art künstlicher Hügel fürs Schlitteln). Sowohl die Dostojewski-Wohnung in Petersburg wie das Tolstoi-Haus sind heute Museen, man muß Plastik-Überschuhe überstreifen und wird von lieben Matronen überwacht, während der Direktor mit dem Dolmetscher an seiner Seite schier stundenlang ausholt, um das Leben des Dichterfürsten Revue passieren zu lassen. Es geht ja in dem Hause nicht nur um ein Schreibleben, wenn der Schreibtisch im Obergeschoß mit der »Umzäunung« der Tischfläche (um das Herunterfallen der beschriebenen Blätter zu verhindern) auch eindrücklich und der kurzbeinige Stuhl, um des Dichters brillenlose Augen dem Papier näher zu bringen, auch interessant und die Vitrinen mit den selbstgefertigten Stiefeln überraschend zu nennen sind: Es geht um das Familienleben in diesem Hause, Holzhaus: um den
großen mit englischem Geschirr gedeckten Eßtisch für das um 18 h abgehaltene Abendessen, wo Eltern und alle Kinder versammelt waren. Um die verschiedenen Kinderzimmer, die eine Tochter Kunstmalerin, um die Salons, wo abends nach dem Essen und der getanen Arbeit (Tolstoi war Frühaufsteher) die Besuche empfangen wurden, Dichter und Künstler und Musiker – die Musik für T. die höchste der Künste –, Freunde und Bekannte; es ging um den hinter einem Paravant versteckten Schlafraum mit den zwei Betten und den Waschschüsseln für das Elternpaar, es ging um Gesinde- und Gouvernantenräume, alles was zur Abhaltung des um den großen Mann gescharten kinderreichen Familien- oder besser Sippenlebens gehörte; um das Private wie um das Öffentliche, Tolstoi war ja mit zunehmendem Alter eine öffentliche Person und vor allem: Instanz.
    Von Moskau habe ich natürlich auch nur flüchtige Eindrücke, immerhin ist das zu einem Festungsring gehörende Neujungfrauenkloster mit den dickwandigen Mauern und den unendlichen Ikonen im Inneren der verschiedenen Kirchen ein noch abrufbarer Eindruck; ebenso wie ich mich an die Lesungen und die Gaststätten zu erinnern vermag, ich meine an den jeweiligen Rahmen, vor allem im Puschkin-Café, einem stilvollen mehrstöckigen, vor nobler Förmlichkeit prangenden Lokal erster Güte und Schönheit, während es in der Staatlichen Bibliothek für ausländische Literatur, wo sich die verschiedenen Ansprachen ablösten und mit offenbar landesüblichem Applaus ebenso ununterbrochen quittiert wurden, eher langweilig zuging und der Rahmen des Saals vom Boden bis zur Decke mit beschlagnahmter deutscher Literatur tapeziert war. Bei dem anschließenden Empfang näherte sich mir die einzige auffallend hübsche junge Frau, eine Studentin und Nizon-Leserin, was mir überaus gefiel.
    Ich darf den Mittagstisch zu meinen Ehren in der schweize
rischen Botschaft nicht vergessen, der Botschafter, Erwin H. Hofer, gestaltete das Ganze amüsant und aufmerksam, ich war gerührt, natürlich auch beim Gedanken, daß Höhlu oder Fredli, mein ältester Freund aus Schulzeiten, hier gewirkt und gewohnt und meine Tochter Valérie zu Gast gehabt hatte.
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    Ich schreibe in meiner Wohnung in der Rue Saint-Honoré, an meinem aus dem Atelier in den ehemaligen Schlafraum verpflanzten weißen Schreibtisch. Ja, vor kurzem erst fand die Räumung des Ateliers, die Schlüsselübergabe bei den Notaren, das heißt der endgültige Verkauf statt; und nun bin ich aus der zunehmend geliebten Gegend der Butte Montmartre mitsamt Rue Lepic und Place und Rue des Abbesses, aber auch aus der Gegend um die Avenue Junot und Rue Caulaincourt etc.

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