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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ausgestoßen und verbannt, diese andere Seite meines Alltags mitsamt den verschiedenen Anfahrten und Anmärschen zum Arbeitsplatz besteht nun nicht mehr, das »Doppelleben« ist hin. Ich wollte vor dem Auszug unbedingt noch den Roman, mein Fell der Forelle , hinkriegen, was mir knapp gelang, es fehlt nurmehr knapp eine Seite. Ich denke, ich wollte das Buch noch nicht hergeben, schließlich war es ja die ganze letzte Zeit meine innere Heimat; so wie die Ateliergegend meine geheime Seelenheimat war. Hatte beim Ankommen in dem Viertel oft das Gefühl, in den Roman wenn nicht die Literatur physisch einzutreten. Was habe ich nicht im 18. Arrondissement und zu Teilen in den Straßen meiner ersten Pariser Zeit (Rue Simart) für meine Forelle eingesammelt!
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    Montag, 21. 2., ist Elisabeth Plahutnik gestorben, wie mir Valérie mitteilt. Sonntag sei sie noch ansprechbar gewesen,
dann in einen heftigen (?) Abwesenheitszustand mit Agitation der Beine, wohl Todeskampf, verfallen, hierauf in tiefen Schlummer mit unregelmäßigen Atemzügen bis zum letzten Atemzug.
    Ich habe gestern nacht an sie gedacht und Abschied genommen. Ich ermaß den Verlust. Vermutlich war ich nirgendwo sonst in meiner ganzen Widersprüchlichkeit so begriffen, gesehen und, ja, wohl geliebt worden. Bedingungslos. Erkannt, rundum angenommen. Dieser Halt, diese Heimat ist nun nicht mehr. Sie war, neben meinen Frauen, die Gefährtin, Verschworene, Vertraute.
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    Canetti, Entwurf
    Ich habe ihn immer den größten Menschenerklärer genannt, darum sind mir ja auch seine Essays so lieb. Er hatte diese nie nachlassende Neugier auf Menschen, er pirschte sich innerlich an sie heran, spürbar, es war eine brennende Neugier, er schlüpfte in ihre Haut, er war ja auch Komödiant, man denke nur daran, wie er sich am Telefon in der Sprachmaske der Hausbesorgerin meldete, um unliebsame Anrufer abzuwimmeln; er hatte mich davon ins Bild gesetzt, um mir klarzumachen, daß ich in solchem Falle nur gleich meinen Namen nennen möchte. Ich habe ihn auch einmal in der Rolle der Hausbesorgerin, mit der Altweiberstimme, am Apparat gehabt, jedoch gleich den Canetti dahinter erkannt, möglicherweise weil ich um die Taktik wußte, erkannt hätte ich seine Stimme trotz allem gleich. Ich kannte sie ja auch aus unzähligen Gesprächen, stunden- und nächtelangen. Ja, in London an der Thurlow Road in Hampstead hatte ich in den ausgehenden sechziger Jahren unendlich lange Zusammenkünfte mit ihm. Ich kam jeweils am späten Nachmittag an und verließ ihn manchmal auch erst im Morgengrauen oder bei Tagesanbruch. Zwischendurch gingen wir essen,
oft in ein Ristorante, kein Feinschmeckerlokal, Canetti aß gern und viel, wie er damals ja auch ein starker Raucher gewesen ist. Er sagte mir, er arbeite immer nachts, tagsüber halte er sich in Cafés oder Teestuben auf, er beobachtete, notierte in solchen anspruchslosen Lokalen, er kannte ja auch die eine oder andere Serviererin, in meiner Erinnerung eher hübsche und keß uniformierte Mädchen, er hat mich der einen oder anderen auch vorgestellt.
    Die Wohnung war bescheiden und mit eher massiven, gutbürgerlichen Möbeln bestückt, sie machte nicht viel von sich her, es gab keine besondere Stimmung oder Wohnatmosphäre, nichts Beeindruckendes; was mich erstaunte, war der Umstand, daß Canetti mir Armagnac anbot, wie er mir später in der ebenfalls bescheidenen Wohnung an der Zürcher Klosbachstraße Whisky vorsetzte, er wußte, ich trank ihn gern – er trank damals nicht mehr, wie er ja auch nicht mehr rauchte, sich aber gerne von mir eine Zigarette reichen ließ, die er nie anzündete, sondern in den Fingern hielt und herumdrehte. Um auf den Menschenerklärer zurückzukommen: Er imitierte, karikierte, demaskierte schonungslos, wenn er nicht überhaupt vivisektionierte, nun, er schlüpfte in die Haut der anderen, es war Aneignung, es war Verwandlung, ein Wort, das ihm für den Dichter zentral erschien, wie jedermann weiß. Wenn es nicht überhaupt das war, was den Menschen vom Tier unterschied. Man könnte die maßlose Neugier fast schon erotisch nennen, ich denke, er hat nicht nur ein Bestiarium aus seinen Anverwandlungen gewonnen, sondern darüber hinaus ein phantastisches Spektrum aus anatomischen Organen, weniger ein Linnésches System der Arten als ein barockes Metamorphosen-Pandämonium,

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