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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ein reiner Kitschmaler geworden. Dagegen ein Soutine! Ja, der kommt von Rembrandt und Goya her.
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    War eben erst angekommen in Paris und diesmal von Biel, wohin mir Odile zusammen mit Igor meine Klamotten aus dem Stadtschreiberhäuschen in Bergen transportiert hatte – nach einer guten Woche gemeinsamen Aufenthalts –; war also endlich wieder in Paris, hatte die ersten Rituale der Rückbürgerung hinter mir und lief in einen frischen Morgen hinaus, erst einmal um mir Zeitungen und die Carte Orange für meine Bus- und Metro-Zirkulationsfreiheit zu
beschaffen; überquerte die Straße und sah mitten auf der Fahrbahn eine zusammengekauerte graue Taube, eine Art Hutzelweibchen, zerzaust war sie und in sich verkrochen, eine kleine unansehnliche Federkugel, schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Und ein Wagen fuhr auf sie zu, mit einer jungen Frau am Steuer, ich sah die Frau nach dem Vogel ausschauen, die Fahrt verlangsamen, achtgebend, daß sie das Ding da ja nicht überfahre; und ich sah, während der Wagen vorsichtig anrollte, die Taube zur Seite humpeln, dachte, die Frau wird sie verschont haben und wartete, daß das Vögelchen heil zum Vorschein komme; doch sie blieb plattgewalzt zurück, die Taube. Muß sich mit einem letzten Elan unter das Rad gelegt und umgebracht haben. Es sah mir wie Selbstmord aus. Alte Tauben bringen sich in der Regel ins Abseits zum Sterben. Ich kann welche in dunklen Mauerecken harren, des Todes harren sehen, man begreift gleich und würde nie eingreifen. Doch diese Taube da, diese Alte, die wieder ein schrumpfliges Täubchen geworden war, hatte sich zum Sterben auf die Fahrbahn begeben. Und die Frau sah ich den Hals verdrehen in der Hoffnung, sie habe das Vogelwesen nicht überrollt. Weiß nicht, ob sie danach im Rückspiegel das Häufchen zerdrückter Federn noch wahrgenommen und dies oder das dabei gedacht hat. Angekommen und den Tod der Taube erlebt am ersten Morgen.
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    Nach einer knappen Woche Skiurlaub in Saas Fee zusammen mit Walter, Eva und Talin (Hunziker) zurück. Die Ferien waren – wie nicht anders zu erwarten – ein Schock; die »Wonnen der Gewöhnlichkeit« (Thomas Mann) – ein Anblick des Horrors.
    Die eisigen Flanken der Gletscher, die verherrlichte Bergnatur mit ihrer vielbesungenen Größe, dem ewigen Schnee, der personifizierten Ewigkeit, wenn nicht Jenseitigkeit –
nichts für mich. Sehnte mich gleich nach lieblichen, nämlich kultivierten Gegenden, vor allem Zivilisation. Und dann der Betrieb! Überall die Seilbahnen, Sessellifte, die die Bergwelt erschlossen und über die monotonen Schneefelder schaukelten, um die wie Extraterrestrische bunt verkleideten Skileute auf die Pisten zu befördern, auf daß sie auf ihren lächerlichen Latten runterkurven und -sausen, Schneegischt hinterlassend, dahingleiten konnten, alle dasselbe vom Gott Volksgesundheit verordnete Körpervergnügen genießend, dieselbe reine Höhenluft atmend, dasselbe strahlende blendende Licht (wie Höhensonnenersatz) speichernd. Und nach vollbrachter Leistung sieht man sie durch die Gassen und Gäßchen mit all den Souvenirläden, bunten Geschäften, Imbißstätten, Restaurants, sieht man sie durch diese kitschige, von der Ferien- und Touristikindustrie ausgedachte und gestiftete Kulisse waten, bereit für das genormte Feierabendglück inklusive Bierherrlichkeit und Hotelfraß.
    Vom einstigen Dorf einige wenige Überbleibsel in Form von echten Walliserschobern, sonst ist alles in eine Art Goldgräberstadt, will sagen: Ansammlung, Häufung von Hotels und Pensionen und Dienstleistungs- und Vergnügungsetablissements verwandelt, abstoßend neckisch. Wie mich das anekelte: die Gleichmacherei, die einstimmige Fröhlichkeit, das abonnierte, in faden Dosen verabreichte Behagen für jedermann. Ich witterte in all diesen Wintersportglücklichen meine genuinen Feinde, die schreckliche Mehrheit auf Erden, die Brauchbaren, die das Leben nach den Verordnungen der Mächtigen und den Vorgaukelungen der Werbung absolvieren und mit ihrem genormten Dasein alles in die größte Ödnis verwandeln und auf meinesgleichen wie auf den Staatsfeind reagieren.
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    Ich bin zutiefst irritiert durch die Lektüre von und über Dürrenmatt. Irritiert deshalb, weil er ein, allerdings bewunderter, Antipode ist, der Gedankenschlosser, der die

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