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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einen fortzogen und hintrugen, ich weiß nicht, wohin; ich war entschlossen, meine neuerrungene Junggesellenfreiheit mit geleisteter Arbeit zu rechtfertigen, ich wollte wohl vor allem vor den Augen der Kinder bestehen können, daran hielt ich mich fest, und ich umarmte meinen großen Hund, und dann machten wir uns auf zu einem Spaziergang am See, und im übrigen mußte ich ja auch arbeiten, um meine und der Kinder Existenz berappen zu können.
    Th. ist nach einem infernalischen Abschiedsfest, einem Gelage, zu welchem er alle Zechgenossen, mit welchen er in der Stadt je zusammengekommen war, und außerdem alle Penner, die er sichten und mitschleppen konnte, einlud, und zwar mit dem festen Vorsatz, wenn nicht das ganze Abbruchhaus, so doch seine Mietwohnung zu Bruch gehen zu lassen, was ihm auch einigermaßen gelang, aus der Stadt verschwunden.
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    Ich sagte zu dem Mädchen mir gegenüber im Bus Linie 27 in Gedanken:
    Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack, es ist mehr als dezent, wie Sie zu dem weißen flauschigen Rock diese Tweedjacke aus bräunlichen Mischtönen zu wählen wußten, die Kombination weiß/braun (oder ocker), gewissermaßen aus
der Kubistenskala, entspricht meinem Schönheitssinn aufs beste; und den türkisfarbenen pfeilspitzenförmigen Ohrring, der wie ein Köder nach Ihrem im übrigen erstaunlich feinmuscheligen Ohr schnappt, hätte man nicht passender aussuchen können; Ihre Augen sind mir auch gleich aufgefallen, als sie sich so sorglos zum Lächeln erwärmten; das Lachen galt einer Frauensperson, die den Fahrer durch die geöffnete Falttür abkanzelte; die Komik der Situation habe ich nicht mitbekommen, doch habe ich sie als Abglanz und liebliche Quittung in Ihren Augen gespiegelt gefunden, was mich gleich für sie einnahm; Sie haben entzückende grünliche Augen, sie haben zwischen Braun und Grün so viele Ausdrucksmöglichkeiten, das Schelmische gehört auch dazu; jetzt merken Sie natürlich, daß ich in Ihnen lese wie, ja, wie in einem mir leider verwehrten Leben; Ihr Blick streift mich neugierig, eben haben Sie meine Schuhe gemustert und sichtlich mit ihrem Gefallen beehrt; ist es nicht merkwürdig, wie schnell man mit Blicken ins Gespräch kommt; eben überlege ich mir, wie ich Sie mit Worten ansprechen könnte; pas évident wäre ein Einstieg, auf was immer sich das bezöge, doch hielt ich an mir, um Ihnen in Gedanken weiter zu sagen, daß mir auch Ihre Nüstern aufgefallen sind, so schöne Nüstern, zierliche Flüsterhöhlen; und hat Ihnen schon jemand gesagt, wie verführerisch Ihr Mund geschnitten ist, die Zeichnung Ihres Mundes möchte ich als Schlußschnörkel ans Ende eines Buches setzen: finis ; Augen, Mund und Nüstern haben Rasse, doch finde ich das Wort viel zu plump, Sie haben eine zwischen Keckheit und Zärtlichkeitenversprechen spielende Anmut, und das alles in eine Haut geschrieben, die so makellos ist wie der erste Tag und noch ohne die Andeutung eines Schattens; so viel Interesse ist wohl schwer zu verkraften, darum schließen Sie jetzt auch die Augen und geben vor zu entschlummern, ein netter Einfall, ich fasse es als Kompliment auf; Ihr Gesicht liegt nun wie
ein Angebot auf dem Teller meiner Verehrung, es ist auch eine Spur Preisgabe in dieser List: Mach weiter; ich frage mich die ganze Zeit, ob Sie verstehen, was ich Ihnen in Gedanken sage, ich glaube, ja. Sie können wohl nicht genug davon bekommen, so ein verwöhntes nimmersattes Kind; frage mich, wie wohl die Schenkel seien, die sich unter dem weißen Rockstoff wölben, ich bin neuerdings ein Schenkelnarr, müssen Sie wissen, cuisses , hanches , fesses , diese Gegend. Ich steige jetzt aus, herrliches Goldkind, je vous aime.
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    In einer Galerie an den Champs-Élysées eine Ausstellung vom frühen Chagall (aus den zehner und zwanziger Jahren), Leihgaben aus Rußland, gesehen. Teils sind sie wohl auch zum Verkauf in den Westen verschoben worden. Mein Eindruck: Chagall war zu Anfang bloß eine Art volkstümlicher Fabulierer, eine Art (primitiver) Märchen- und Folkloremaler. Er hat diesen Fundus nach orphischem, frühkubistischem Rezept gekämmt und arrangiert, stilisiert, modernisiert. Das ist alles. Das Ganze kam mir ziemlich leer vor, ohne existentielle Kraft, ohne menschliche Tiefe, ohne malerische Substanz, oberflächlich. Später ist er mehr oder weniger

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