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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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den schützenden Blicken des Exboxers, der als Barmann waltete und
schlimme Kunden hinausbeförderte, nicht grob, vielmehr zart und mitfühlend, der Schutzpatron mit seinem zerbeulten Gesicht.
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    Es war mein erstes Junggesellenzimmer nach der Trennung, späteren Scheidung, nach meinem Auszug aus der Familie. Das Zimmer in einem Abbruchhaus. Ich war Untermieter von H. Th., der über eine recht große Wohnung verfügte.
    Ich hatte ein Zimmer mit Blick auf einen Hof, hinter dem Hof Werkstätten, Handwerkerbuden. Ja, und noch einer wohnte in dem Haus, der schwerhörige Zeichner und Flötist, ein vierschrötiger, in seiner Art sehr gebildeter Mittvierziger, mit dem für Schwerhörige zwischen Staunen und Verstörung wechselnden begriffsstutzigen und manchmal dämlichen Blick. Dämlich wirkt der Blick, wenn der Mann seine Begriffsstutzigkeit mit einer an Gläubigkeit gemahnenden Freundlichkeit zu vertuschen trachtet.
    H. Th. war ein verkommenes Subjekt, das merkte man allerdings nicht gleich, weil er sich hinter einem kravattierten und wohlerzogenen Äußeren versteckte oder zu verstecken suchte. Gescheiterter Soziologe mit Studentenvergangenheit in Berlin oder so ähnlich und großer Musikliebhaber, vor allem Wagnerianer, auch ein wenig braunrüchig. Ein großer, etwas vorstellender bubenhafter Mann, aus guter bernischer Familie, der sich in Zürich mit Hilfe einer Anstellung eine Scheinexistenz mit gutbürgerlicher Fassade errichtet hatte. Die Anstellung bestand in einem fragwürdigen Redakteurspöstchen in einem kleinen Verlag, in welchem sich unser Freund mit einem vom mütterlichen Erbe oder Kapital abgezweigten Sümmchen eingekauft hatte. Th. war hauptsächlich Muttersohn, er war ganz Ergebenheit, Zittern vor dieser übermächtigen Person, darum die Scheinexistenz, darum die Selbstüberforderung, die Ordentlich
keit und Rechtschaffenheit simulierende Fassade, hinter welcher sich ein Schwarmgeist, Schwächling, Wagnerianer, vor allem Trinker und Alkoholiker verbarg. Die Wohnung war verkommen, die Küche eine Müllhalde von verrostenden Konserven und schmutzüberkrusteten Pfannen, verfaulenden Essensresten, Bergen ungewaschenen Geschirrs; eine stinkende Anklage. Die Küche benutzte H. Th. nur morgens, wenn er in Panik erwachte, zitternd wie Alkoholiker nach übermäßigem nächtlichen Konsum, um sich zu rasieren, weil in der Küche der einzige Spiegel, und hier schabte er sich die Bartstoppeln, unrasiert wäre er nie außer Haus gegangen, er schnitt sich dabei die ganze Visage blutig, er massakrierte sich mit dem Eifer eines Selbstverstümmelungsfanatikers, wobei er über die diversen Gesichtsstellen Blutstillerstriemen, die wie weißer Kleister aussahen, nebst Gazeschnipsel klebte, um nach solchen Camouflierungsaktionen in letzter Sekunde außer Haus zu rennen, auf die nächste Trambahn natürlich, um nicht allzu verspätet in seinem Redaktionssessel Platz zu nehmen, wo er mehr zu dösen als zu arbeiten pflegte bis zur abendlichen Erlösung, bis zum Geschäftsschluß. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich einigermaßen erholt, und dann begann der Abend, begann die andere Existenz, die Trinkerexistenz, die in Kneipen und vielen Bars stattfand und frühmorgens in den verkommensten Spelunken endete. Und in den Morgenstunden pflegte er heimzukommen, und zwar in Begleitung der hoffnungslosesten Zechgenossen, die entweder überhaupt kein festes Domizil hatten oder unter keinen Umständen nach Hause wollten; mit ihnen kehrte er heim ins abbruchreife Haus, um bis zur allgemeinen Ohnmacht weiterzuzechen. Natürlich hatte er gute Vorsätze, doch da war die Mutter, war der Alptraum ihrer überlebensgroßen in den Sohn gesetzten Erwartungen, eine Schreckensvorstellung, nicht auszudenken, nur zu ertränken. Manchmal wohnte ich seiner
Morgentoilette vor dem Spiegel bei, die Küche benutzte ich verständlicherweise nicht, ich rührte nichts an.
    Und mein Zimmer hielt ich immer vorsorglich abgeschlossen, höchstens daß ich ihn in den seltenen Zwischenphasen einer leidlichen Nüchternheit also Ansprechbarkeit zwischendurch einließ, um ihn an der Bohème von Puccini oder den von Kathleen Ferrier gesungenen Brahmsliedern teilnehmen zu lassen, einer Musik, die zu diesem meinem damaligen Junggesellenleben gehörte, ich war süchtig nach jenen Stimmen, gewaltigen Stimmbogen, die

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