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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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verdattert. Boris wollte dem Vater etwas bieten.
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    Jetzt den Traum nachholen, den ich kurz nach dem Landen hatte.
    Ich fand mich in einem Gedränge von mir fremden Leuten, in einer Lokalität, zusammen mit Igor, und auf einmal merke ich, daß sich die ganze Geschäftigkeit um den Kleinen dreht, er soll etwas angestellt haben, nun, ich nehme es auf die leichte Schulter, schließlich handelt es sich um ein Kleinkind, was kann da schon passieren? Doch im Verlauf der Aktivitäten, die immer mehr den Charakter von Amtshandlungen annehmen, wird mir klar, daß die Lage ernster ist als gedacht, und plötzlich schnappe ich das Wort »Erziehungsheim« auf. Was? Ich wende mich an den Untersuchungsrichter, denn um einen solchen handelt es sich, ich ersuche ihn um Auskunft. Er wehrt erst ab, doch etwas später wird mir bedeutet, der Kleine, mein Igor, sei verurteilt und werde in ein Heim kommen und dies unverzüglich. Es trifft mich wie der Blitzstrahl, ich brülle auf, ich packe den Untersuchungsrichter am Revers, ziehe ihn an mich heran, das
geht doch nicht, er hat doch nichts Ernsthaftes verbrochen, das können Sie doch nicht ernstlich meinen, ich zerre ihn her zu mir, ich bin bereit, ihn zu töten, bin außer mir und gleichzeitig von einem wilden Schmerz erfüllt. Ende. Womöglich ist es eine Verwechslung oder besser Übertragung von Boris auf Igor. Boris hat sich ja minderjährig oft in Gefahrenzonen bewegt. Ihn hatte ich kürzlich erst gesehen, und Igor sieht ganz genauso aus wie Boris, als dieser in seinem Alter war. Eine Spätzündung von Angst und eine Angst- oder Befürchtungsübertragung. Konnte mich noch lange nach dem Erwachen nicht von der Panik befreien, die ich im Traum ausgestanden hatte.
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    Mitterrand gestorben. Eine schillernde Persönlichkeit voller Widersprüche, eine Sphinx. Ein mit allen Wassern gewaschener, mehr als nur gewandter Politiker und Machtmensch, ein Künstler der Macht, heißt es. Vielleicht ist sein größtes Werk die mit vielen Facetten versehene, statuierte und einsichtig zugänglich gemachte Erschaffung des Selbstbildnisses. Ecce Homo. Ein großer Mann. Das ist es, was alle Franzosen fasziniert, diese Verführung bis über den Tod hinaus, die Handreichung zur Identifikation. Diese Art Menschlichkeit, die ans Geheimnis rührt. Ein Franzose durch und durch. Mitterrand ist Frankreich. Und Frankreich trauert – eine Gott-verlassene Nation, die sich in ihm wunschbildlich wiedererkennt.
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    Habe Odile gesagt, daß ich letztendlich an nichts glaube mit Ausnahme vielleicht dieser poetischen Existenz, daß ich nichts zu verbreiten wisse, daß ich nach der Erleuchtung dürste, daß ich einzig besessen sei, das runde dichte objet zu verfertigen, das ich mit meiner Literatur dem Dunkel und
der Melancholie abtrotze, etwas Resistentes, das dann im Medium der Zeit und im Bewußtsein des Lesers wie eine Blüte aufgeht vergleichbar der japanischen Papierblume, die sich im Wasser öffnet, wunderbar.
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    Paul Hofer, der lebenslange Freund, war bei all seiner Geselligkeitslust wohl ein sehr alleinstehender Mann, nicht einsam, doch unerreichbar in einem innersten Bezirk. Jetzt nach Mitternacht hätte er sich in seiner Geisteswerkstatt an die Arbeit gemacht und die inneren Heerscharen auf den Plan berufen. Vermutlich hat er in den einsamen Arbeitsnächten, aus den Tiefen des Wissens schöpfend und in die Flüge des Wünschens oder Sehens, was wohl ein und dasselbe war, entweichend, viel Glücklichsein erfahren. Welch ein Imaginieren, welch ein Versammeln von inneren Gestalten, ein Feldherr an seinem langen Arbeitstisch mit den Bücher- und Papierstapeln, den Plänen und Rollen und Zeichnungen und Rekonstruktionen und mit seiner bei aller bestechenden Klarheit hieroglyphisch wirkenden Handschrift. Das faktische Vermessen und die Vermessenheit der Gedankenflüge. Die innere Musik. Die Schatten in der Werkstatt. Klarheit und tänzerische Fortbewegung und der verschwiegene Schattenbezirk. Das Horchen. Und die Abwendung nach innen wie von einem Taubstummen, für Momente.
    Immer fuhr er noch im hohen Alter mit seiner Lancia Fulvia nachmittags in die Stadt, um in einem seiner paar Lieblingscafés an einem Tisch zu notieren, eine auffallend urbane Erscheinung. Einmalige Silhouette. Bei aller Disputfreudigkeit nie eine Spur des Besserwissens. Widerpart war für ihn

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