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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Zustände der Welt um und immer bis in die ausweglos katastrophalen Finale hin durchdenkt und in einem wahren Gepurzel von komödiantischen Bilderfolgen und manchmal labyrinthischen Bilderfallen; das Ganze ist vollkommen konkret, ja, wie in seinen Kriminalromanen zu lesen, diesseitig, plastisch, heutig bis schnoddrig (vor allem in den Namengebungen), also aktuell; und gleichzeitig ist es in ein philosophisches, ja, naturwissenschaftliches Denkgefüge eingehängt und insofern metaphysisch; es ist negative Theologie, nämlich Demonstration der fürchterlichsten, zufälligsten Sinnlosigkeit, und dennoch ist es nie zynisch, sondern in der Gesamtwirkung letztlich von einer tapferen Güte. Dürrenmatt waltet wie ein Stallbesen in der Gesellschaft und den Gesellschaften, den Religionen, Mythologien, Ideologien des Planeten. Und alles ist vollkommen bildhaft, nie dürr und abstrakt. Und es hat diese Spannung zwischen Dorf, dem kleinsten Hienieden, und dem ungeheuerlichsten Weltall. Dürrenmatts Sprache ist eine gewaltige Sprachmaschine. Und was die Zwangsläufigkeit des Bösen anbetrifft, vielleicht ein Verwandter von Highsmith. Bei Dürrenmatt drängt sich der veraltete bis unheimliche Geniebegriff auf.
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    Dauernd ein seelenmarterndes Aprilwetter, bin merkwürdig abgelenkt von mir selber und gleichzeitig halb gelähmt. Dieses Wochenende ist der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen, und ich müßte unbedingt das Nachwort zum Mantel hinbekommen. Jetzt schnell einige Schnappschüsse aus Amerika.
    Mit Söhnchen Boris, dem Weltgewandten, sehe ich mich in Portland/Oregon in einem kleinen Restaurant am Fluß sit
zen, es ist heiß, wir tragen wichtigtuerisch Sonnenbrillen, reden – sowohl über den Beruf des Kopfjägers, über unsere Eheverhältnisse und leider etwas allzu reduzierten Auffassungen von Frau-Mann-Beziehungen als auch über den väterlichen bzw. großväterlichen Hintergrund; und einmal hält uns gegenüber ein Sheriffboot mit einem Häftling, er sitzt mit nacktem Oberkörper und mit (Handschellen) hinter dem Rücken gebundenen Händen komisch ausgestellt wie eine Art Teddybär hilflos im Boot, einige Leute unterhalten sich mit ihm von ihren Tischchen aus, und die bewaffneten Polizisten gehen angeberisch hin und her und machen Eintragungen in Formulare, dann zerrt man ihn auf den Steg und läßt ihn Alkoholtests machen (wie mir Boris erklärt, der ähnliches auch schon über sich hat ergehen lassen). Es ist heiß, ich bin in einem fremden Land, habe am Reed College, einer Nobelinstitution, in einem Seminar gesessen und die Explosionen der blühenden Azaleen, Kamelien, Rhododendren etc. in mich aufgenommen und in einem weißen villenartigen Haus bei einem Professor Apéros getrunken, das Haus ein Holzhaus, luxuriös, voller Bücher, Bilder, Kultur, ein Intellektuellenhaus wie aus dem Buche, in einem weitläufigen Wald- oder Parkgebiet gelegen. Der Professor meint, diese Parklandschaften seien in Wirklichkeit weitgehend unerschlossene Waldgebiete, und wenn sich etwa Wanderer oder Kinder darin verliefen, führe kein Weg zurück, es sei denn, man gehe mit Helikoptern auf die Suche, mit fliegenden Suchtrupps. Und dann Candle-Light-Dinner in einer Art Country Club Restaurant, wo wiederum nur ihresgleichen verkehren, Dozenten, ein kleiner Kreis von lokalen Tonangebenden, die sich kennen. Man ist in Portland/Oregon/ USA und gleichzeitig in tiefster Provinz oder universitärer Klausur. Und draußen an der Peripherie sind dann wie in einem Niemandsland Stripbars, weitläufige, wo gleichzeitig an fünf Bars schwitzende Männer im Unterhemd,
Barbaren, freie Siedler, ich tippte auf Lastwagenchauffeure, ihr Bier in sich laufen lassen und dabei wirklich unerhört schönen Nackedeien zuschauen, die nicht nur vortanzen, sondern sich auch über die Theke räkeln, um alle Intimitäten wie Vagina, Brüste, Arsch und Arschloch dem Männervolk zu servieren, herzuzeigen, das heißt in fast mikroskopische Nähe hinzuhalten, hier bekommst du wirklich etwas zu sehen für dein Geld, für die in Abständen auf die Theke hingeblätterten Dollarnoten, die die Schönheitstänzerinnen hinterher oder besser nach jeder Runde einsammeln, und das Ganze ist klinisch aseptisch, es ist so fern von Erotik wie Europa von Amerika. Ich fühlte mich richtiggehend verloren, nun, verirrt und

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