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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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des baltendeutschen Umsiedlers W., dessen »sehr gebrechliche« Tochter »zunächst in die Heilanstalt Stralsund überführt« und von dort in die Anstalt Meseritz-Obrawalde verlegt worden war. Desgleichen ist für die pommersche Heil- und Pflegeanstalt Ueckermünde dokumentiert, wie dort kranke und sieche Baltendeutsche in großer Zahl vorübergehend einquartiert wurden. [127]  
    Zu Beginn ihrer Mordaktionen holten SS-Leute die pommerschen Kranken in den Anstalten ab und brachten sie direkt zur Exekution nach Westpreußen. Bald darauf ging die Verlegung der Patienten in ähnlich verschleiernder Weise vonstatten, wie das später im Fall der T4-Morde geschah: Die Todgeweihten wurden für kurze Zeit in Zwischenanstalten verlegt, um ihr Verschwinden und ihr plötzliches Sterben notdürftig zu tarnen. Anfang Oktober 1939 mussten die ersten Patienten die Anstalt Lauenburg in Pommern verlassen. Darüber berichtete die Oberpflegerin Maria Lüdtke später: »Nach dem ersten oder zweiten Transport wurde schon davon geflüstert, dass die Transporte nach Neustadt in Westpreußen gebracht wurden. Hier befand sich ebenfalls eine Heil- und Pflegeanstalt, wovon es hieß, dass sie bereits geräumt sei. Es hieß dann auch, der Pfarrer von Lauenburg, der irgendwelche Verbindungen mit Neustadt hatte, solle gesagt haben, in Neustadt seien viele Massengräber, und die Bevölkerung sei gewarnt worden, es würden abends (militärische) Übungen abgehalten. Offiziell habe ich von Pflegevorsteher Jobst, der in Tiegenhof (bei Danzig) Dienst versah, erfahren, dass man diese Kranken erschossen hat.« Hernach seien die Transporte nicht mehr nach Neustadt, sondern nach Kosten gegangen und die Kranken nicht mehr von der SS abgeholt, sondern »vom Pflegepersonal hingebracht« worden. [128]  
    Dasselbe Vorgehen bezeugten Krankenschwestern aus der ostbrandenburgischen Anstalt Meseritz-Obrawalde: »Im Februar 1940 ging ein Transport mit Geisteskranken nach der Anstalt Kosten in Polen. Die Anstalt Stralsund wurde aufgelöst, und nach Obrawalde kam ein Teil des Personals und der Patienten.« Wieder wurden Listen mit Namen von Patienten gefertigt. Dann fuhren Autobusse vor und holten die Patienten im Verlauf mehrerer Tage ab. Ein Begleiter habe dann »die Wertsachen und belegten Brote, die wir für die Reise vorbereitet hatten«, abgenommen. Nach demselben Muster wurde die Anstalt Kückermühle bei Stettin aufgelöst. Alle Kranken und einige der Angestellten wurden nach Lauenburg verlegt. Von dort mussten viele Patienten nach Kosten weiterreisen, und das bedeutete den Tod. [129]  
    Die bereits zitierte Pflegerin Lüdtke musste Anfang März 1940, als die Anstalt Lauenburg »der SS übergeben wurde«, in die Anstalt Tiegenhof wechseln und erlebte dort die folgende Praxis: »Auch hier erhielt ich fertige Listen vom Verwaltungsbüro. Meistens waren es alte und sieche Leute, die auf den Listen geführt wurden. Diese Leute mussten sich auf der Siechenstation sammeln. Es kam dann ein großer Wagen mit SS-Leuten, der vor dem Maschinenhaus und der Siechenstation vorfuhr. (…) Bei dem Wagen handelte es sich um den Typ eines kleinen Möbelwagens. Vorne saßen der Fahrer und ein SS-Mann, der zweite SS-Mann fuhr mit seinem Privatwagen hinterher. (…) Im Wagen befanden sich Bänke. Die ganz schwer Kranken wurden aber auf Stroh gesetzt. Damals hat auch niemand etwas zu sagen gewagt. Ich habe aber vermutet, es handle sich bei diesem Transportmittel um einen Gaswagen. Der Wagen fuhr auch nicht wie üblich in Richtung Stadt Gnesen, sondern in Richtung des großen Waldes zu. Von den Kranken habe ich nie wieder etwas gehört.« [130]  
    Auch für die Anstalt Schwetz (S´wiecie) lässt sich der Zusammenhang von Umsiedeln und Morden eindeutig belegen: »Veranlasst durch SS-Hauptsturmführer (Hans) Schoeneck, Gesundheitsstelle«, so heißt es in einem Vermerk, »wurden am 2. 11. 1939 Verhandlungen mit dem Verbindungsmann der Deutschen Reichsbahn, Reichsbahnassessor (Walter) Hölzel, und später mit dem stellvertretenden Leiter der Gesundheitsstelle, SS-Untersturmführer Dr. (Fritz) Masuhr, wegen des Abtransportes der geisteskranken Polen und des damit verbundenen Transportes gebrechlicher Baltendeutscher geführt. Der Transport der polnischen Geisteskranken hat am Freitag, den 3. 11. 1939, zu erfolgen, und zwar von Schwetz nach Preußisch Stargard. Es handelt sich um 700 Geisteskranke, die von der Irrenanstalt Konradstein bei Pr. Stargard umgeleitet werden

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