Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
sollen. Die dadurch frei werdenden Unterkünfte sollen am Sonnabend, den 4. 11. 1939, durch 200 gebrechliche Baltendeutsche aus Neustadt und 500 gebrechliche Baltendeutsche aus Danzig neu belegt werden.« [131]
Kaum war das geschehen und die Irrenanstalt in eine schmucke Altenresidenz umgewandelt, kamen die Mitarbeiter der Umsiedlungsstäbe auf die Idee, die »außerordentlich glückliche Lösung« Schwetz zu kopieren. »Da nun in Westpreußen noch weitere ehemalige Irrenanstalten, zum Beispiel Riesenburg und Neustadt, vorhanden« seien, entstehe die Frage, »ob diese nicht auch in Heime umgewandelt« und dort »weitere 1600 gebrechliche Baltendeutsche untergebracht werden könnten«. [132] Der Vorschlag scheiterte an regionalen und militärischen Interessen. Zur gleichen Zeit visitierte der Leiter der Abteilung Erb- und Rassenpflege im Gesundheitsamt Lodz, Herbert Grohmann, das psychiatrische Krankenhaus Kochanówka in der Nähe der Stadt und befahl, so ein späterer polnischer Bericht, »in einer der Krankenhausabteilungen eine SS-Einheit einzuquartieren sowie drei Pavillons für die Aufnahme der aus dem Osten repatriierten Deutschen zu räumen«. Es dauerte nicht lange, bis am 13., 14. und 15. März 1940 etwa 540 Patienten der Anstalt im Gaswagen ermordet wurden. [133] Als schließlich auch einige Zehntausend Deutsche aus Litauen und aus dem Narewgebiet umgesiedelt werden sollten, kommandierte der Höhere SS- und Polizeiführer in Posen, Wilhelm Koppe, der dort zugleich Himmlers Umsiedlungsbeauftragter war, die Gaswagen ins ostpreußische Soldau. Die Stadt lag nahe der litauischen Grenze, verfügte zudem über einen Eisenbahnknotenpunkt und praktischerweise über eine Heil- und Pflegeanstalt. Diese wandelten die Funktionäre in ein Zwischenlager für Umsiedler um, und umgehend ermordeten die Männer des Sonderkommandos Lange dort zwischen dem 21. Mai und dem 8. Juni 1940 rund 300 polnische und 1558 deutsche Patienten, mehrere Hundert davon stammten aus den benachbarten Anstalten Kortau und Tapiau. [134]
Die SS-Kommandos mordeten nicht allein in den Anstalten zum Nutzen umgesiedelter Volksdeutscher. Zumindest vom August 1942 an, aber wahrscheinlich schon deutlich früher, wurden in den Lagern für solche Polen, die aus den annektierten Gebieten nach Zentralpolen (ins sogenannte Generalgouvernement) deportiert werden sollten, »mehrfach Kranke und Krüppel ausgelesen und abtransportiert«. Im Juli 1943 äußerte Eichmanns Mitarbeiter Hermann Krumey, der auch für die Deportation von Polen zuständig war: »Die bei der (Umsiedlungs-) Aktion anfallenden Geisteskranken und unheilbar Kranken wurden dem Reichssicherheitshauptamt zur Sonderbehandlung vorgeschlagen. Genehmigung wurde in allen Fällen erteilt.« [135]
Der Massenmord in den deutsch-polnischen Randgebieten ging der Aktion T4 zeitlich voraus und lief dann noch einige Monate parallel. Ein konkreter Befehl lag dafür nicht vor. Dennoch arbeiteten die beteiligten Organisatoren und Nutznießer Hand in Hand und betrachteten ihr gemeinsames Handeln als zweckmäßig. Dafür bedurfte es lediglich einer mündlichen, möglicherweise nur vage ausgesprochenen Vorgabe, vielleicht nur eines Vorschlags, dem von keinem Vorgesetzten widersprochen wurde. Die Beteiligten ermordeten die Insassen der psychiatrischen Anstalten nicht aus erb- und rassenhygienischen Gründen, diese dienten ihnen allenfalls als Rechtfertigung, sondern aus naheliegenden Nützlichkeitserwägungen, aus purem Utilitarismus. Sie erschossen und vergasten die Patienten auch nicht systematisch, sondern allein wegen des akuten Bedarfs an Räumen und Betten oder dann, wenn sie zum Personenkreis solcher Polen und Juden gehörten, die gewaltsam vertrieben werden sollten. Aus ebensolchen Motiven ließ die Wehrmacht vom Herbst 1941 an Tausende Patienten sowjetischer Heil- und Pflegeanstalten ermorden.
Kindergehirne für exzellente Wissenschaft
»Reichsausschussmaterial«, begehrt und verwertet
Die Ärzte des Reichsausschusses verbanden strukturelle Reformen und Fortschritte in der Pädiatrie mit dem Töten dauerhaft geschädigter Kinder und mit aggressiver Forschung. Zu letzterem Zweck kooperierten sie mit Universitäten und angesehenen Instituten. Die Ärzte, die in Berlin-Wittenau behinderte Kinder ermordeten, arbeiteten eng mit der Pathologischen Abteilung des Rudolf-Virchow-Krankenhauses zusammen, geleitet von Berthold Ostertag, und mit der Universitätskinderklinik der Charité,
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