Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
ohne dass ein entsprechender organischer Befund festgestellt werden kann«. Außerdem interessiere ihn »Mongolismus besonders«. Catel beabsichtige, »sich hauptsächlich mit den Erkrankungen der Stammganglien (erblich-degenerative Prozesse) und den Spaltbildungen des Kopfes und der Wirbelsäule (Gaumenspalte, Wolfsrachen, Spina bifida, Meningocele, Myolocele etc.) (zu) befassen«, und werde ferner »die Frage der Kinderlähmung im Rahmen des Reichsausschusses im Bezug auf Übertragung und Behandlung forschungsmäßig in Angriff nehmen«. Dafür verlangte er einen Assistenten, nämlich den Kinderarzt Fritz Kühnke, des Weiteren »eine grundsätzliche Entscheidung zu der Frage der Poliomyelitisforschung«. Mit diesem Halbsatz forderten die Gutachter meines Erachtens, dass auch Kinder und Jugendliche in das tödliche Verfahren des Reichsausschusses einbezogen werden sollten, die mit den Folgen von damals noch häufig auftretenden Polioepidemien geschlagen waren. Hefelmann antwortete alsbald: »Die Poliomyelitisforschung bitte ich, wie mündlich besprochen, in die Wege zu leiten. Eine Ermächtigung seitens anderer Instanzen hierzu erscheint nicht notwendig.« [183]
Fritz Kühnke, der sich mit dem Projekt des Reichsausschusses zur Erforschung der Kinderlähmung befassen sollte, wurde nach dem Treffen der Gutachter tatsächlich nach Leipzig zu Catel kommandiert. Kühnke war bei Wiskott in München ausgebildet worden und hatte als Assistent der Kinderklinik in Egelfing-Haar und Heidelberg-Wiesloch etwa 40 Kinder getötet. Weil er später in Hamburg der Kinderarzt einer mit mir eng befreundeten Familie wurde, suchte ich ihn im Januar 1985 auf. Er hatte gerade den Aufruf »Ärzte warnen vor dem Atomtod« unterschrieben, ein rundum freundlicher Kinderarzt, der sich zudem auf Psychotherapie für Kinder spezialisiert hatte – so saß er da und berichtete zur Sache: Er habe sich die Versetzung nach Leipzig 1942 zunächst nicht erklären können, allerdings sei seine weitere Mitarbeit im Reichsausschuss infolge eines lebensgeschichtlichen Umstands beendet worden. Sein erstes Kind, eine Tochter, sei 1942 mit einer Rückenmarkspalte zur Welt gekommen. Die Eheleute Kühnke stellten sie den Kollegen Hans-Christoph Hempel und Catel in Leipzig vor, die beide für den Reichsausschuss arbeiteten, und erhielten die Auskunft: »Solange dieses Kind lebt, werden Sie nicht glücklich sein.« Warum er zuvor Kinder ermordet habe? Auf diese simple Frage wusste Fritz Kühnke keine Antwort mehr. Er schwieg. [184]
»Der Vollständigkeit halber« erwähnte Wentzler am Ende seines Berichts, »dass die Reichsausschusskinder noch auf zwei anderen Gebieten der Wissenschaft dienen, indem sie einerseits die Testung des Scharlachschutzimpfstoffes ermöglichen (Dr. Heinze) und andererseits der außerordentlich wichtigen Frage der tuberkulosen Immunisierung zur Verfügung stehen (Bessau-Hefter).« [185] Um die Forschung an den behinderten Kindern zu intensivieren, regten die Gutachter an, dass »in der ersten Hälfte des April 1943 eine etwa dreitägige Tagung der Ärzte stattfindet, welche im Reichsausschuss mitarbeiten, welche den Charakter eines Informations- und Schulungskurses trägt«. Wie fast jeder Wissenschaftler, der auf sich hält, forderten die drei Gutachter am Ende ihres Arbeitsplans Geld. Wentzler prahlte, er habe die finanzielle Seite bereits »in einer persönlichen Unterredung« mit keinem Geringeren als »mit dem Reichsleiter (Bouhler) am 15. des Monats besprochen«. Dabei habe man »in Aussicht genommen, die zu Forschungszwecken notwendigen Gelder durch das Innenministerium (Dr. Linden) zu mobilisieren«. [186]
Das hier wiedergegebene Dokument bildet ein kleines, heute noch greifbares Teilchen verbrecherischer Forschungen an behinderten Kindern. Selbstverständlich vergaben Catel, Heinze und Bessau, aber gewiss noch viele andere Professoren wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten, um das »Material des Reichsausschusses zu nutzen«. Hier einige von mir eher zufällig aufgefundene Beispiele: Karl Heinz Pospiech, Encephalographische und anatomische Befunde bei angeborenem Balkenmangel und bei Erweiterung des Cavum septi pellucidi, medizinische Dissertation aus der Landesanstalt Brandenburg-Görden, Berlin, Januar 1942; Arnold Asmussen, Ein charakterologischer Beitrag zum Adoptionsproblem, medizinische Dissertation aus der Landesanstalt Brandenburg-Görden, Kiel, September 1943; Werner-Joachim Eicke,
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