Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
insbesondere die Psychiater nie aufhören werden, körperlich und geistig Erkrankte bis zum Äußersten zu behandeln, solange noch eine Änderung ihres Zustandes zum Guten vorhanden ist. Es sollte aber vernünftiger Aufklärung die Aufgabe gestellt werden, die Öffentlichkeit zu der Auffassung heranreifen zu lassen, dass die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Rohheit, sondern ein erlaubter, nützlicher Akt ist.« [207]
Tödliche Spritzen als Teil fachärztlicher Ausbildung
In Hamburg dekretierten nicht irgendwelche Nazis, Rassisten oder völkische Ideologen die Morde an behinderten Kindern. Vielmehr arbeiteten lokale ärztliche Autoritäten, ein weltberühmter Professor für Psychiatrie und Neurologie und die verantwortlichen Dezernenten und Beamten einvernehmlich an der sogenannten Euthanasie. Britische Militärjuristen bezeichneten diese 1945 als massenhafte klinische Hinrichtungen vollständig wehrloser Menschen.
Als bedeutende Ausnahme trat in Hamburg allein Rudolf Degkwitz hervor. Er wurde 1943 aufgrund einer Denunziation des Chefs der Eppendorfer Hautklinik, Paul Mulzer, von der Gestapo vorübergehend verhaftet, setzte 1945 das Ermittlungsverfahren gegen Bayer und Knigge mit in Gang und versuchte noch Jahrzehnte später von New York aus immer wieder, seinen Kollegen Werner Catel vor den Richter zu bekommen. Degkwitz erhob seine Vorwürfe mit Hilfe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Rechtsanwaltskanzlei des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Allerdings begann er mit seiner Kampagne erst, nachdem Max Nonne 1959 fast hundertjährig gestorben war. In einem Brief an den Kieler Dienstherrn von Professor Catel schrieb Degkwitz im Mai 1960, er gehe erst jetzt gegen Catel vor, weil sein Fall mit anderen Fällen zusammenhänge – auch solchen in Hamburg, über die er habe schweigen müssen, um Professor Nonne zu schonen.
Am 29. Mai 1945 erstatteten drei Famulanten der Kinderklinik Rothenburgsort Strafanzeige gegen ihren Chefarzt Wilhelm Bayer. Sie beschuldigten ihn sowie einige Stationsärztinnen und Krankenschwestern, in den vorangegangenen Jahren behinderte Kinder getötet zu haben. Zudem beantragte der von der britischen Besatzungsmacht eingesetzte Gesundheitssenator Rudolf Degkwitz eine gerichtliche Untersuchung zu denselben Vorgängen. Daneben ermittelten die militärgerichtlichen Organe der Briten. So konnte bereits im Juni 1945 ein strafrechtliches Verfahren wegen der Hamburger Kindermorde eingeleitet werden. Historiographisch betrachtet, liegt der Vorteil der in diesem Verfahren protokollierten Aussagen darin, dass die Befragten noch sehr unmittelbar berichteten und – wie das Verhalten des Gutachters Nonne bestätigt – sich noch kein einheitliches prozesstaktisches Aussageverhalten herausgebildet hatte.
Max Nonne reagierte in ganz besonderer Weise. Ihn bat der Ermittlungsrichter 1946 im Verfahren gegen die vielfacher Kapitalverbrechen beschuldigten Ärzte Bayer und Knigge, ein Gutachten zu erstatten. Nonne nahm den Auftrag an und reichte jenes bereits zitierte Gutachten ein, mit dem er vier Jahre zuvor das Handeln der Mörder gerechtfertigt hatte. Im Anschreiben bezeichnete er die ermordeten Kinder 1946 nicht als Personen, sondern als Fälle und Material der Ärzte und bemerkte generell: »In den Fällen des Herrn Dr. Knigge handelte es sich durchgehend um schwere Idioten. In den Fällen des Herrn Dr. Bayer war das vorliegende Material genau dasselbe. Das sind alles Fälle, für die ich schon seit langen Jahren eine Unterbrechung des Lebens gewünscht hatte.« [208]
Der angeschuldigte Hermann Knigge starb während der Ermittlungen, so verblieb nur Wilhelm Bayer als Hauptbeschuldigter. Daneben wurden auch seine Assistenzärztinnen als Tatverdächtige vernommen, fast alle hatten ihre Ausbildung in der Klinik Rothenburgsort erst nach 1940 begonnen. Von diesen zwölf Berufsanfängerinnen hatten sich zehn ohne jeden Widerspruch an den Morden beteiligt. Kaum eine hatte Gewissensbisse verspürt, kaum eine der NSDAP angehört. Die jungen Frauen hatten die Technik des Mordens als Angelegenheit ärztlicher Routine kennengelernt. Auf Anordnung des Chefs, jedoch ohne Zwang »gewährten« folgende Hamburger Ärztinnen zwischen 1941 und 1945 »Sterbehilfe«: Freiin Ortrud von Lamezan (*1918), Ursula Bensel (*1921), Emma Lüthje (*1912), Ursula Petersen (*1912), Ingeborg Wetzel (*1912), Gisela Schwabe (*1917),
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