Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Helene Sonnemann (*1911), Lotte Albers (*1911), Maria Lange de la Camp (*1906), Ilse Breitfort (*1910) und Fräulein Dr. Bauer.
Im Jahr 1943 betrug das Durchschnittsalter dieser in das Morden aktiv einbezogenen Frauen 30 Jahre. Nur die Assistenzärztinnen Fräulein Dr. Rawie und Fräulein Dr. Fontana machten nicht mit. Weder die eine noch die andere berichtete später, dass ihr daraus Nachteile erwachsen wären. Chefarzt Bayer legte von Anfang an Wert darauf, das Töten »vollkommen im Rahmen des übrigen üblichen Abteilungsgeschehens vollziehen« zu lassen. Wie das vonstattenging, gaben die beteiligten Ärztinnen unmittelbar nach dem Krieg zu Protokoll.
Maria Lange de la Camp: »Bei den Visiten habe ich durch Kolleginnen erstmalig etwas über die sogenannten Reichsausschusskinder erfahren. Ich habe in der ganzen Zeit meiner Tätigkeit auf der Scharlachstation nur ein einziges idiotisches Kind gehabt. (…) Die Meldung an den Reichsausschuss habe ich nicht gemacht, diese war bereits mehrere Monate vorher erfolgt. Das Kind lag auf meiner Station noch mehrere Wochen in völlig unverändertem Zustande, und eines Tages bekam ich von Dr. Bayer einen Zettel, auf dem nur der Name des Kindes stand. Was dieser Zettel bedeutete, wusste ich von meinen Kolleginnen her. Die Flasche mit dem Luminal hatte immer die Ärztin in Verwahrung, die zuletzt gespritzt hatte. Wer das war, wusste ich aus unseren Visiten und Arztbesprechungen. (…) Ich habe die Spritze mit zehn Kubikzentimetern Luminal aufgezogen und bin in der Mittagszeit auf die Station gegangen, weil dann die Stationsschwester alleine war. Der Schwester W. hatte ich vorher schon Bescheid gesagt, dass ich dem Kind die Sterbehilfespritze verabfolgen würde. Ich bin nun gemeinsam mit der Stationsschwester zu dem Kind gegangen. (…) Ich habe niemals eine Spritze verabfolgt, ohne mir das Kind halten zu lassen. In dem Krankenblatt habe ich die Spritze nicht vermerkt, denn die Kolleginnen hatten mir gesagt, dass die Spritze nicht zu vermerken sei. In dem Totenschein habe ich als Todesursache Pneumonie angegeben. Die Kolleginnen hatten mir gesagt, ich solle als Todesursache Pneumonie hinschreiben. (…) Von allen Assistenzärztinnen hat sich nur ein einziges Mal eine einzige gegen die Euthanasie ausgesprochen, und zwar war dies Fräulein Dr. Fontana, die uns sagte, dass sie die Euthanasie ablehnen würde, wenn man an sie herantrete. Solange ich da war, hat Fräulein Dr. Fontana keine Sterbehilfe geleistet.«
Ursula Bensel sagte aus: »Ich war im Krankenhaus, um zu lernen, und ich wusste, dass im Krankenhaus ein anderer Standpunkt, der die Euthanasie bejahte, vertreten wird. (…) Ich war damals 23 Jahre alt und Anfängerin. Der Chefarzt stand so turmhoch über uns, dass ich es nicht wagte, ihm mit meinen Zweifeln zu kommen.« Am 7. März 1945 nahm sie die zweijährige Hannelore S. auf, die an einer schweren Zerebralparese litt. Vier Wochen später, am 5. April, tötete Ursula Bensel die kleine Hannelore und erklärte dazu später: »Wenige Tage vor dem Tod des Kindes trat Dr. Bayer an mich heran und sagte, dass das Kind vom Reichsausschuss geschickt wäre, und ich wüsste ja wohl, was damit zu geschehen hätte. Dr. Bayer sagte mir, ich solle dem Kind eine Luminalinjektion machen, und er nannte mir auch die Zahl der Kubikzentimeter.« Die junge Ärztin schwieg, verspürte Gewissensnot und sprach deshalb mit der Mutter des Kindes. Diese teilte ihr mit, sie habe mit Dr. Bayer gesprochen, der eine Behandlung vornehmen wolle, die mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zum Tode des Kindes führe. Die Ärztin forderte die Mutter auf, das Kind mit nach Hause zu nehmen. Die Mutter lehnte ab. Danach setzte die Ärztin die tödliche Spritze.
Ingeborg Wetzel erklärte das Verfahren und ihre Rolle so: »Professor Sieveking (von der Hamburger Senatsverwaltung) kam zu mir und verlangte das ›Reichsausschusskind‹ so und so (er hatte den Namen des Kindes) zu sehen. Das Kind wurde ausgepackt, und Professor Sieveking sprach über das Kind einige bedauernde Worte. Über die Frage, ob das Kind zur Euthanasie kommen sollte, haben wir nicht gesprochen. Bei den Assistenzärztinnen bestand nicht der leiseste Zweifel darüber, dass Professor Dr. Sieveking über die Durchführung der Euthanasie unterrichtet war, denn meiner Auffassung nach schrieb er auch Berichte an den Reichsausschuss. Einige Wochen nachdem Sieveking die Kinder besichtigt hatte, kam von Berlin her die Genehmigung
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