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Die Berufung

Titel: Die Berufung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Haar, versuchte, sich nicht zu lange im Spiegel anzusehen, und putzte sich die Zähne mit Wasser aus einem Krug, der immer auf dem Waschbecken stand. Nachdem sie das Licht in ihrem Zimmer angeknipst hatte, setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf und trat in den Wohnraum, wo ihre Freunde dicht gedrängt saßen.
    Es war an der Zeit, in die Kirche zu gehen.
     
    Mr Trudeaus schwarzer Bentley wurde von einem ebenfalls schwarzen Chauffeur namens Toliver gefahren, der angeblich aus Jamaika stammte, dessen Einreisedokumente aber genauso verdächtig waren wie sein affektierter karibischer Akzent. Mittlerweile fuhr er den großen Mann seit zehn Jahren und konnte seine Stimmung einschätzen. Heute hatte der Boss einen schlechten Tag. Toliver bemerkte es sofort, als er den Wagen durch den dichten Verkehr auf dem Franklin Delano Roosevelt Boulevard steuerte. Er hatte bereits Schlimmes befürchtet, als Mr Trudeau die rechte Hintertür zuknallte, bevor er seine Pflicht erfüllen und den Schlag schließen konnte.
    Sein Boss, hatte er gelesen, habe bei Vorstandssitzungen Nerven wie Drahtseile. Sei nicht aus der Ruhe zu bringen, entscheidungsfreudig, kühl kalkulierend und so weiter. Doch wenn er einsam im Fond des Bentley saß, glaubte Toliver selbst bei geschlossener Trennscheibe oft, etwas von seinem wahren Charakter zu erkennen. Der Mann war ein Hitzkopf mit einem aufgeblähten Ego, das keine Niederlage ertrug.
    Und heute hatte er definitiv eine Niederlage einstecken müssen. Er telefonierte, nicht gerade schreiend, aber bestimmt nicht im Flüsterton. Die Aktie werde einbrechen. Anwälte seien Idioten. Alle Welt habe ihn angelogen. Schadensbegrenzung. Toliver schnappte nur Bruchstücke auf, doch eines war klar - was immer es sein mochte, in Mississippi musste etwas Verheerendes passiert sein.
    Sein Boss war einundsechzig und hatte laut Forbes ein Reinvermögen von fast zwei Milliarden Dollar. Häufig fragte sich Toliver, wann er genug gescheffelt hatte. Was würde er mit der nächsten oder übernächsten Milliarde anstellen? Warum arbeitete jemand so hart, wenn er mehr hatte, als er je ausgeben konnte? Häuser, Privatjets, Frauen, Jachten, Bentleys -Mr Trudeau hatte all die Spielzeuge, die ein waschechter Weißer sich nur wünschen konnte.
    Aber Toliver kannte die Wahrheit. Mr Trudeau würde nie genug Geld haben. Noch gab es reichere Männer in der Stadt, und er setzte alles daran, sie einzuholen.
    Toliver bog in westlicher Richtung auf die Sixtythird ab und bahnte sich seinen Weg zur Fifth Avenue, wo er das Steuer herumriss und vor einem massiven Stahltor bremste, das sich umgehend öffnete. Der Bentley verschwand in einer Tiefgarage, wo ein Sicherheitsbeamter wartete. Er öffnete den Schlag. »In einer Stunde müssen wir wieder los«, schnauzte Mr Trudeau seinen Chauffeur an. Dann verschwand er, mit zwei dicken Aktentaschen unter dem Arm.
    Der Aufzug brachte ihn schnell in den sechzehnten Stock, direkt unter dem Dach, wo Mr und Mrs Trudeau in verschwenderischem Luxus lebten. Das Penthouse nahm die beiden obersten Etagen ein, durch etliche Panoramafenster sah man den Central Park. Gekauft hatten sie die Wohnung kurz nach ihrer pompösen Hochzeit vor sechs Jahren für achtundzwanzig Millionen Dollar, und nachdem sie weitere zehn Millionen in die Innenarchitektur investiert hatten, sah alles aus wie aus einem Designmagazin. An Personal gab es zwei Zimmermädchen, einen Koch, einen Butler, einen persönlichen Diener für sie und ihn, mindestens ein Kindermädchen und natürlich den unverzichtbaren Privatsekretär, der umsichtig Mr Trudeaus kostbare Zeit organisierte.
    Ein Kammerdiener nahm ihm die Aktentaschen und den Mantel ab, und er eilte die Treppe hinauf, um nach seiner Frau zu suchen. Eigentlich war er nicht besonders scharf darauf, sie zu sehen, aber es gab kleine Rituale, die man nicht ignorieren durfte. Sie war in ihrem Ankleidezimmer, flankiert von zwei Hairstylisten, die fieberhaft mit ihrem glatten blonden Haar beschäftigt waren.
    »Hallo, Darling«, sagte er pflichtgemäß, in erster Linie wegen der beiden jungen Männer, die sich kein bisschen daran zu stören schienen, dass Mrs Trudeau fast nackt war.
    »Gefällt dir meine Frisur?«, fragte Brianna, angestrengt im Spiegel die Handbewegungen der Hairstylisten verfolgend. Kein »Hallo, Honey«, kein »Hattest du einen angenehmen Tag?«, kein »Wie ist der Prozess gelaufen?«. Nur diese simple Frage: »Gefällt dir meine Frisur?«
    »Wundervoll«, antwortete er,

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