Die Berufung
bereits auf dem Rückzug. Er hatte das Ritual beachtet; jetzt konnte er verschwinden und sie den Hairstylisten überlassen. Vor dem riesigen Ehebett blieb er kurz stehen, um einen Blick auf ihr Abendkleid zu werfen - »von Valentine«, wie sie ihm bereits mitgeteilt hatte. Es war knallrot und hatte ein Dekollete, von dem nicht klar war, ob es ihre fantastischen Silikonbrüste eher verhüllen oder entblößen würde. Das Kleid war kurz, wog bestimmt nur ein paar Gramm und hatte vermutlich mindestens fünfundzwanzigtausend gekostet. Es war hauteng, womöglich nicht mal Größe XXS, und lag so gut an ihrem bis aufs Skelett heruntergehungerten Körper, dass die anderen Magersüchtigen auf der Party im Ton unaufrichtiger Bewunderung feststellen würden, wie »fit« sie aussehe. Ehrlich gesagt hatte er, Carl Trudeau, allmählich die Nase voll von ihren Obsessionen - eine Stunde täglich mit einem Fitnesstrainer (dreihundert Dollar pro Stunde), eine mit dem Yogalehrer (dreihundert Dollar), eine mit ihrem Ernährungsberater (zweihundert Dollar). All das diente einzig dem Zweck, den Kampf gegen das letzte bisschen Fett zu führen und ihr Gewicht zwischen vierzig und dreiundvierzig Kilo zu halten. Zum Sex war sie immer bereit - das war Teil ihrer Abmachung -, doch fand er es mittlerweile manchmal irritierend, sich an ihren spitzen Knochen zu stoßen oder befürchten zu müssen, sie in der Hitze des Gefechts mit seinem Gewicht zu erdrücken. Sie war erst einunddreißig, aber ihm waren direkt über ihrer Nase ein oder zwei Fältchen aufgefallen. Derlei Probleme ließen sich durch plastische Chirurgie beheben, doch zahlte sie nicht einen hohen Preis für dieses Hungerleiderdasein?
Er hatte sich um wichtigere Dinge Gedanken zu machen. Eine attraktive junge Frau gehörte bei einer so bedeutenden Persönlichkeit wie ihm dazu, und Brianna Trudeau war noch attraktiv genug, um jeden Autofahrer abzulenken, wenn sie über die Straße ging.
Sie hatten eine gemeinsame Tochter, auf die er gut hätte verzichten können, denn er hatte bereits sechs Kinder. Genug, wie er fand. Drei von ihnen waren älter als Brianna. Sie hatte auf ihrem Kinderwunsch insistiert, die Gründe lagen auf der Hand. Ein Kind bedeutete Sicherheit, und da sie mit einem Mann verheiratet war, der die Frauen liebte und große Achtung vor der Institution der Ehe hatte, stand das Kind für Familie, enge Bindungen und Wurzeln. Und - unausgesprochen - für Rechtsansprüche im Fall einer Scheidung. Ein Kind war eine Absicherung, die jede Vorzeigefrau brauchte.
Nach der Geburt ihrer Tochter hatte sich Brianna für den furchtbaren Namen Sadler MacGregor Trudeau entschieden. MacGregor war ihr Mädchenname, und der Vorname Sadler schien aus der Luft gegriffen. Zuerst hatte sie behauptet, irgendein schottischer Verwandter habe Sadler geheißen, doch dann rückte sie von diesem Märchen ab, als Carl ein Buch mit Vornamen fand. Eigentlich war es ihm egal. Bei dieser Tochter war er nur der Samenspender gewesen. In der Vaterrolle war er schon bei seinen früheren Ehen elend gescheitert.
Mittlerweile war Sadler fünf und praktisch von beiden Elternteilen verlassen. Brianna, die einst unbedingt ein Kind hatte haben wollen, hatte schnell das Interesse verloren und alle Mutterpflichten an eine Reihe von Kindermädchen delegiert. Im Augenblick war es eine korpulente junge Russin, deren Papiere nicht vertrauenerweckender waren als die Tolivers. In diesem Moment fiel ihm nicht einmal ihr Name ein. Brianna hatte sie eingestellt und war begeistert gewesen, weil sie Russisch sprach und es ihrer Tochter vielleicht beibringen konnte.
»Soll sie mit der Kleinen etwa Russisch sprechen?«, hatte er gefragt.
Brianna hatte nicht geantwortet.
Er trat ins Spielzimmer und hob das Kind in die Luft, als hätte er es gar nicht abwarten können, es zu sehen. Nachdem er Sadler umarmt, geküsst und gefragt hatte, ob sie einen schönen Tag gehabt habe, war der Pflicht Genüge getan. Kurz daraufstand er in seinem Büro, wo er zum Telefon griff, um Bobby Ratzlaff anzuschnauzen.
Nach ein paar weiteren unergiebigen Telefonaten ging er duschen, trocknete anschließend sein perfekt gefärbtes Haar -nur leicht angegraut - und zog seinen neuen Armani-Smoking an. Obwohl er inzwischen eine Nummer größer trug, kniff die Hose ein bisschen mehr als damals, als Brianna begonnen hatte, ihm nachzustellen. Während er sich anzog, verfluchte er den vor ihm liegenden Abend, die Party und die Menschen, die er dort treffen
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