Die Berufung
Chemical deprimierende Umsatz- und Gewinnzahlen. Das Unternehmen hatte in Texas und Indonesien mit Fertigungsproblemen zu kämpfen. Drei Werke wurden wegen wichtiger, nicht eingeplanter Reparaturen geschlossen. Ein Werk in Brasilien machte ohne Angabe von Gründen dicht, wodurch die zweitausend Beschäftigten ihre Arbeit verloren. Großaufträge wurden nicht erfüllt. Langjährige Kunden wechselten frustriert den Lieferanten. Der Vertrieb konnte keinen Nachschub besorgen. Die Wettbewerber senkten ihre Preise, um Krane Marktanteile abzunehmen. Die Stimmung war schlecht, und Gerüchte wollten von enormen Kostensenkungen und Entlassungen wissen.
Hinter dem Chaos zog Carl Trudeau gekonnt die Strippen. Er hatte schon vor Jahren gelernt, wie man die Bücher frisierte, ohne gegen Gesetze zu verstoßen. Wenn eines seiner Unternehmen schlechte Zahlen brauchte, lieferte er sie. Im Lauf des Jahres schrieb Krane enorme Summen für Forschung und Entwicklung ab, nahm ungewöhnlich hohe Rücklagen vor, schöpfte seine Kreditlinien weitgehend aus, dämpfte den Absatz durch Sabotage der Fertigung, blähte die Kosten auf, verkaufte zwei rentable Geschäftsbereiche und brachte es fertig, viele Kunden zu verprellen. Trudeau sorgte dafür, dass die Nachrichten im großen Stil durchsickerten. Seit dem Urteil interessierte sich die Wirtschaftspresse für Krane, und alle Hiobsbotschaften wurden ausführlich kommentiert. Natürlich wurden stets die massiven rechtlichen Probleme des Unternehmens erwähnt. Nach gezielten Hinweisen von Trudeau war die Möglichkeit eines Insolvenzverfahrens mehrfach erwähnt worden.
Die Aktie hatte das Jahr mit einem Kurs von 17 Dollar begonnen. Neun Monate später notierte sie bei 12,50 Dollar. Bis zu den Wahlen waren es nur noch zwei Wochen. Trudeau hielt die Zeit für einen letzten Angriff auf die arg gebeutelten Stammaktien der Krane Chemical Corporation für gekommen.
Der Anruf von Jared Kurtin war wie ein Traum. Wes schloss die Augen, während er Kurtins Worten lauschte. Das klang zu gut, um wahr zu sein.
Kurtin erklärte ihm, er sei von seiner Mandantin angewiesen worden, die Möglichkeiten eines Vergleichs im Bowmore-Verfahren auszuloten. Krane Chemical stecke in größten Schwierigkeiten. Solange die Prozesse noch im Raum stünden, könne sich das Unternehmen nicht auf seine Geschäftstätigkeit konzentrieren und wettbewerbsfähig arbeiten. Kurtin schlug vor, alle Anwälte in einem Raum zu versammeln und mit den Verhandlungen zu beginnen. Das werde nicht einfach, weil es so viele Kläger mit unterschiedlichen Anliegen gebe. Die Vielzahl der Anwälte sei ebenfalls problematisch. Wes und Mary Grace sollten als Sprecher der Anwaltschaft füngieren, aber Details dieser Art klärten sie am besten bei ihrer ersten Zusammenkunft. Die Zeit dränge. Kurtin hatte bereits in einem Hotel in Hattiesburg ein Besprechungszimmer reserviert. Die Verhandlungen sollten am Freitag beginnen und, wenn nötig, über das Wochenende weiterlaufen.
»Heute ist Dienstag.« Wes packte das Telefon so fest, dass sich seine Knöchel weiß färbten.
»Ja, ich weiß. Wie gesagt, meine Mandantin legt Wert darauf, dass die Verhandlungen so bald wie möglich beginnen. Sie werden sich unter Umständen wochen- oder gar monatelang hinziehen, aber wir sind bereit, uns mit Ihnen an einen Tisch zu setzen.«
Wes war auch bereit. Für Freitag war die Protokollierung einer Aussage angesetzt, aber das ließ sich leicht verschieben. »Wie sind die Regeln?«, fragte er.
Kurtin war im Vorteil, weil er den Ablauf gründlich hatte planen können. Wes dagegen war überrascht und aufgeregt. Außerdem besaß Kurtin deutlich mehr Erfahrung. Er hatte bereits mehrfach in Sammelverfahren Vergleiche ausgehandelt, während Wes nur davon träumen konnte.
»Ich schreibe alle bekannten Anwälte von Beklagten an«, sagte Kurtin. »Überprüfen Sie die Liste bitte auf Vollständigkeit. Wie Sie wissen, tauchen ständig neue auf. Alle Anwälte sind geladen, aber wenn man den Prozessanwälten das Mikrofon überlässt, wird das nie etwas. Sie und Ihre Frau agieren als Sprecher der Klägerseite, ich vertrete Krane. Unsere erste Aufgabe ist die Ermittlung sämtlicher Personen, die irgendwelche Ansprüche stellen. Unseren Unterlagen zufolge sind das etwa sechshundert. Das Spektrum reicht von Todesfällen bis hin zu Nasenbluten. In meinem Anschreiben bitte ich die Anwälte um die Namen ihrer Mandanten, unabhängig davon, ob diese Klage eingereicht haben oder nicht.
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