Die Berufung
Anders als bei Sammelklagen mit zehntausend Klägern ist die Zahl überschaubar, sodass wir die individuellen Ansprüche klären können. Unseren aktuellen Unterlagen zufolge handelt es sich um achtundsechzig Todesfälle und einhundertdreiundvierzig Erkrankungen, die voraussichtlich zum Tode führen werden. Bei den übrigen Fällen geht es um verschiedene Leiden, die aller Voraussicht nach nicht lebensbedrohlich sind.«
Kurtin hakte die Zahlen ab wie ein Kriegsreporter, der aus der Schlacht berichtet. Wes verzog das Gesicht und bekam unwillkürlich finstere Gelüste - wie so oft, wenn er an Krane Chemical dachte.
»Auf jeden Fall werden wir diese Zahlen durchgehen. Wir brauchen ein Ergebnis, das wir mit den Mitteln abgleichen können, die meine Mandantin aufzuwenden bereit ist.«
»Und von welcher Größenordnung sprechen wir?«, fragte Wes mit einem verzweifelten Lachen.
»Das kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Vielleicht später. Ich bitte alle Anwälte, für jeden Mandanten ein Standardformular auszufüllen. Wenn wir das bis Freitag zurückbekommen können, ist ein großer Schritt getan. Ich bringe ein komplettes Team mit. Prozessanwälte, administrative Mitarbeiter, Sachverständige, Finanzleute und sogar einen Vertreter von Krane mit weitreichender Handlungsvollmacht. Und natürlich das übliche Team von den Versicherungsgesellschaften. Ich würde vorschlagen, dass Sie für Ihre eigenen Mitarbeiter einen ausreichend großen Raum buchen.«
Womit denn?, hätte Wes am liebsten gefragt. Kurtin wusste doch bestimmt von dem Insolvenzverfahren.
»Gute Idee«, sagte er stattdessen.
»Ach ja, meine Mandantin legt großen Wert auf Vertraulichkeit. Es gibt keinen Grund, die Sache öffentlich zu machen. Wenn etwas durchsickert, wird das unter Klägern, Anwälten und der Bevölkerung von Bowmore für unnötige Aufregung sorgen. Was, wenn die Verhandlungen ergebnislos bleiben? Diskretion ist angesagt.«
»Selbstverständlich.« Nachdem Kurtin nicht weniger als zwanzig Anwaltskanzleien anschreiben wollte, war das absolut lächerlich. Noch vor dem Mittagessen würde die Nachricht von der Zusammenkunft in Babe's Coffeeshop kursieren.
Am nächsten Morgen brachte das Wallstreet Journal auf der Titelseite einen Bericht über das Gesprächsangebot von Krane Chemicals. Eine anonyme Quelle aus dem Unternehmen bestätigte die Gerüchte. Die Experten waren geteilter Meinung, aber generell wurde davon ausgegangen, dass sich dieser Schritt positiv für das Unternehmen auswirken würde. Große Vergleiche sind berechenbar, Zahlungsverpflichtungen kontrollierbar. Die Wall Street mag harte Zahlen und hasst Unwägbarkeiten. Gebeutelte Unternehmen schaffen es häufig, ihre finanzielle Zukunft mit teuren Vergleichen zu sichern, die zwar viel Geld kosten, aber das Prozessrisiko aus der Welt schaffen.
Krane eröffnete bei 12,75 Dollar und kam bei lebhaftem Handel um 2,75 Dollar voran.
Am Mittwochnachmittag fingen die Telefone bei Payton & Payton und vielen anderen Anwaltskanzleien an, ununterbrochen zu klingeln. Die Nachricht von dem anstehenden Vergleich war in aller Munde, auf der Straße ebenso wie im Internet.
Denny Ott telefonierte mit Mary Grace. In der Kirche hatte sich eine Gruppe aus Pine Grove versammelt, um zu beten, Klatsch auszutauschen und auf ein Wunder zu warten. Es sei wie eine Mahnwache, sagte er. Wie zu erwarten, waren verschiedene Versionen der Wahrheit in Umlauf. Der Vergleich war bereits ausgehandelt, und das Geld unterwegs. Nein, der Vergleich sollte am Freitag geschlossen werden, aber das war eine reine Formalität. Nein, es gab überhaupt keinen Vergleich, nur eine Besprechung unter Anwälten. Mary Grace erklärte Denny den tatsächlichen Sachverhalt und bat ihn, das weiterzugeben. Schnell wurde klar, dass Wes oder sie selbst zur Kirche fahren mussten, um mit ihren Mandanten zu sprechen.
Babe's Coffeeshop war voll mit aufgeregten Kaffeetrinkern, die auf die letzten Neuigkeiten warteten. Würde Krane die Giftmülldeponie beseitigen müssen? Jemand, der sich angeblich auskannte, behauptete, das sei Voraussetzung für den Vergleich. Wie viel würde für jeden Toten gezahlt werden? Ein anderer wollte etwas von fünf Millionen pro Fall gehört haben. Die Diskussion wurde hitzig. Selbst ernannte Experten standen auf und wurden sogleich niedergebrüllt.
F. Clyde Hardin kam aus seiner Kanzlei herüber und riss sofort das Gespräch an sich. Viele Einheimische hatten sich über seine Sammelklage lustig
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