Die Berufung
seinem Wahlkampf team. Ron machte sich selbst Vorwürfe, weil er so naiv gewesen war. Warum hatte er Menschen, die er kaum kannte, solches Vertrauen geschenkt?
Doreen versicherte ihm, es sei nicht sein Fehler gewesen. Er sei in dem Wahlkampf völlig aufgegangen, sodass er kaum Zeit gehabt hätte, sich um anderes zu kümmern. Ein Wahlkampf sei immer chaotisch. Niemand könne alle Mitarbeiter und Freiwilligen überwachen.
Ron führte ein langes und sehr angespanntes Telefonat mit Tony Zachary.
»Sie haben mich bloßgestellt«, sagte Ron. »Sie haben mich und meine Familie derart gedemütigt, dass ich mich nicht mehr aus dem Haus wage. Ich denke daran, aufzugeben.«
»Das können Sie nicht. Dafür haben Sie zu viel investiert«, erwiderte Zachary, der sich große Mühe gab, sich seine Panik nicht anmerken zu lassen und seinen Kandidaten zu beruhigen.
»Das ist das Problem. Ich habe zugelassen, dass viel zu große Summen fließen, die Sie offenbar nicht unter Kontrolle haben. Stellen Sie sofort die Fernsehwerbung ein.«
»Das geht nicht. Die Zeit ist schon gebucht.«
»Soll das heißen, dass ich bei meinem eigenen Wahlkampf nichts zu sagen habe?«
»So einfach ist das nicht.«
»Ich gehe nicht mehr aus dem Haus. Ziehen Sie auf der Stelle alle Spots zurück. Stoppen Sie die gesamte Propaganda. Ich werde die Redaktionen der Zeitungen anrufen und meine Fehler zugeben.«
»Überstürzen Sie nichts!«
»Ich bin der Boss. Es ist mein Wahlkampf.«
»Ja, und Sie haben so gut wie gewonnen. Nur noch neun Tage! Das dürfen Sie nicht riskieren.«
»Wussten Sie, dass Darreil Sackett tot ist?«
»Nun ja, ich kann nicht ...«
»Beantworten Sie meine Frage. Wussten Sie, dass er tot ist?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Sie wussten, dass er tot ist, und haben absichtlich einen falschen Eindruck erweckt, stimmt's?«
»Nein, ich ...«
»Sie sind entlassen, Tony. Sie sind entlassen, und ich gebe auf.«
»Nur keine Überreaktion. Beruhigen Sie sich erst einmal.«
»Sie sind entlassen.«
»Ich bin in einer Stunde bei Ihnen.«
»Gute Idee. Sie kommen so schnell wie möglich. In der Zwischenzeit betrachten Sie sich als entlassen.«
»Ich bin schon unterwegs. Bitte unternehmen Sie in der Zwischenzeit nichts.«
»Ich rufe jetzt sofort bei den Zeitungsredaktionen an.«
»Tun Sie das nicht! Bitte! Warten Sie, bis ich komme.«
Die Anwälte hatten am Sonntagmorgen nicht viel Zeit zum Zeitunglesen. Um acht Uhr trafen die Ersten zu dem bisher wohl wichtigsten Tag der Verhandlungen im Hotel ein. Jared Kurtin hatte sich nicht dazu geäußert, wann er wieder nach Atlanta zurückwollte, aber man ging davon aus, dass die erste Runde am Sonntagnachmittag vorbei sein würde. Bis auf die dreißig Millionen, die Sterling Bintz in den Raum gestellt hatte, war von Geld keine Rede gewesen. Das musste sich am Sonntag ändern. Wes und Mary Grace waren fest entschlossen, den Raum nicht zu verlassen, bis sie eine ungefähre Vorstellung davon hatten, was Fälle der Klasse eins und zwei wert sein mochten.
Um 8.30 Uhr waren alle Anwälte der Klägerseite versammelt. Die meisten waren in ernsthafte Gespräche vertieft, und alle ignorierten den mit voller Entourage erschienenen Sterling Bintz, der die anderen seinerseits ignorierte. Selbst mit dem Sammelklagenanwalt aus Melbourne Beach wechselte er kein Wort. Um 8.45 Uhr traf Richter Rosenthal ein, dem auffiel, dass kein Vertreter der Beklagten erschienen war. Endlich merkten auch die Prozessanwälte, dass auf der anderen Seite des Tisches gähnende Leere herrschte. Wes gab die Nummer von Jared Kurtins Mobiltelefon ein, aber es meldete sich nur die Mailbox.
»Wir hatten doch neun Uhr verabredet?«, fragte Richter Rosenthal fünf Minuten vor der vollen Stunde. Alle waren sich darüber einig, dass neun Uhr vereinbart worden war. Die Zeit verging plötzlich im Schneckentempo.
Um 9.02 Uhr kam Frank Sully, der örtliche Anwalt von Krane, herein. »Meine Mandantin hat beschlossen, diese Verhandlungen bis auf Weiteres auszusetzen«, sagte er unbeholfen, geradezu verlegen. »Ich bedaure die Unannehmlichkeiten.«
»Wo ist Jared Kurtin?«, fragte Richter Rosenthal.
»Im Flugzeug nach Atlanta.«
»Wann hat Ihre Mandantin das beschlossen?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe vor etwa einer Stunde davon erfahren. Es tut mir wirklich leid, Richter Rosenthal. Ich entschuldige mich bei allen Anwesenden.«
Der Raum schien zu kippen, als eine Seite unter der Last dieser plötzlichen Wende unterging. Die
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