Die Berufung
stutzte und sah Ron genauer an. »Was sind Sie von Beruf?«
»Ich bin Richter am Supreme Court.«
Der Arzt lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Ich habe Ihnen letztes Jahr einen Scheck geschickt. Vielen Dank für Ihre Arbeit.«
»Ich danke Ihnen, Doktor.«
Eine Stunde später, es war zehn Minuten vor Mitternacht, verließen sie Russburg. Josh saß mit einem an seinem Kopf befestigten Eisbeutel auf dem Vordersitz und hörte sich im Radio das Spiel zwischen den Atlanta Braves und den Los Angeles Dodgers an. Ron warf ihm alle zehn Sekunden einen Seitenblick zu, um beim ersten Warnsignal sofort reagieren zu können. Es gab keines - bis sie den Stadtrand von Brookhaven erreichten.
»Dad, mein Kopf tut ein bisschen weh«, sagte Josh.
»Die Schwester hat gesagt, etwas Kopfweh ist in Ordnung, aber starke Kopfschmerzen dürfen nicht sein. Wie schlimm ist es auf einer Skala von eins bis zehn?«
»Drei.«
»Okay, bei fünf sagst du mir Bescheid.«
Doreen wartete mit Dutzenden von Fragen an der Tür. Sie las am Küchentisch den Entlassungsbericht, während Ron und Josh ein Sandwich aßen. Nach zwei Bissen hatte Josh keinen Appetit mehr, obwohl er bei der Abfahrt in Russburg am Verhungern gewesen war. Er war plötzlich gereizt, aber er hätte auch schon seit Stunden im Bett liegen sollen. Als Doreen ihn untersuchen wollte, fuhr er sie an und verschwand im Bad.
»Was meinst du?«, fragte Ron.
»Er scheint in Ordnung zu sein«, erwiderte sie. »Nur ein bisschen schlecht gelaunt und schläfrig.«
Als es ums Schlafen ging, gab es einen Riesenkrach. Josh war elf Jahre alt und hatte nicht die geringste Lust, bei seiner Mutter zu schlafen. Ron erklärte ihm energisch, dass er in dieser besonderen Nacht und unter diesen ungewöhnlichen Umständen sehr wohl neben seiner Mutter schlafen werde. Ron selbst würde in einem Sessel neben dem Bett ein Nickerchen halten.
Unter dem unverwandten Blick beider Elternteile schlief Josh schnell ein. Dann döste Ron in seinem Sessel ein, und irgendwann gegen halb vier Uhr fielen auch Doreen die Augen zu.
Eine Stunde später wurde sie von Joshs Schreien geweckt. Er hatte sich erneut übergeben und litt unter rasenden Kopfschmerzen. Ihm war schwindelig, er redete zusammenhangloses Zeug, weinte und jammerte, weil er alles verschwommen sah.
Der Hausarzt war ein enger Freund namens Calvin Treet. Ron rief ihn an, während Doreen von nebenan eine Nachbarin holte. In weniger als zehn Minuten standen sie in der Notaufnahme des Krankenhauses von Brookhaven. Ron trug Josh, Doreen hatte die Entlassungspapiere und die CT-Aufnahme. Der diensthabende Arzt nahm eine kurze Untersuchung vor. Diesmal sah es gar nicht gut aus. Der Puls war zu niedrig, die Pupillen waren ungleich groß, und der Junge war benommen. Dann traf Dr. Treet ein und übernahm den Patienten, während der diensthabende Arzt den Entlassungsbericht studierte.
»Wer hat sich die Aufnahme angesehen?«, fragte Treet.
»Der Arzt in Russburg«, erwiderte Ron.
»Wann?«
»Gegen acht Uhr gestern Abend.«
»Vor acht Stunden?«
»So ungefähr.«
»Viel ist da nicht zu erkennen«, meinte der Arzt. »Wir machen eine eigene Computertomografie.«
Der diensthabende Arzt und eine Krankenschwester brachten Josh in ein Untersuchungszimmer.
»Ihr müsst hier warten«, sagte Treet zu den Fisks. »Ich bin gleich wieder da.«
Wie Schlafwandler gingen sie ins Wartezimmer der Notaufnahme, im Augenblick zu benommen und zu verängstigt, um etwas zu sagen. Der Raum war leer, sah aber aus, als hätte er eine harte Nacht erlebt: leere Getränkedosen, Zeitungen und Verpackungen von Schokoriegeln auf dem Fußboden. Wie viele andere hatten hier wie betäubt gesessen und daraufgewartet, dass die Ärzte die schlechte Nachricht verkündeten?
Sie hielten sich an der Hand und beteten lange. Zuerst schweigend, dann im Wechsel in kurzen leisen Sätzen. Als das Gebet beendet war, fühlten sie sich ein wenig erleichtert. Doreen rief zu Hause an, sprach mit der Nachbarin, die auf die anderen Kinder aufpasste, und versprach, sich wieder zu melden, wenn sie mehr wussten.
Als Calvin Treet den Raum betrat, war ihnen klar, dass es ernst war. Er setzte sich ihnen gegenüber und sah sie an. »Unserem CT zufolge hat Josh einen Schädelbruch. Die Aufnahme aus Russburg hilft uns nicht weiter, weil sie von einem anderen Patienten stammt.«
»Das ist doch nicht möglich!«, sagte Ron.
»Der Arzt dort hat sich das falsche CT angesehen. Der Name des Patienten am unteren
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