Die Berufung
Samstagabend durften Ron und Doreen Josh für zehn Minuten auf der Intensivstation besuchen, obwohl er im künstlichen Koma lag. Bei seinem Anblick war es um ihre Fassung geschehen. Sein Kopf war eingewickelt wie der einer Mumie, und aus seinem Mund ragte ein Schlauch, der zu einem Beatmungsgerät führte. Doreen wagte noch nicht einmal, seinen Fuß anzufassen.
Eine mitfühlende Schwester erklärte sich bereit, vor seinem Zimmer einen Stuhl aufzustellen, damit jeweils ein Elternteil während der Nacht Wache halten konnte. Ron und Doreen schickten ihr Support-Team zurück nach Brookhaven und fingen an, sich zwischen Intensivstation und Wartezimmer abzuwechseln. An Schlaf war nicht zu denken, und sie wanderten bis zum Sonnenaufgang durch die Gänge.
Die Ärzte waren mit Joshs erster Nacht zufrieden. Nach einer Besprechung am frühen Sonntagmorgen suchten sich Ron und Doreen in der Nähe ein Motel. Sie duschten und zwangen sich zu einem kurzen Nickerchen, bevor sie ihre Positionen im Krankenhaus wieder bezogen. Die Warterituale begannen erneut, während zu Hause die Gebetswachen weitergingen. Das ständige Kommen und Gehen der Besucher wurde bald zur Qual. Ron und Doreen wollten mit ihrem Sohn allein sein.
Spät am Sonntagabend - Doreen war auf der Intensivstation, und die Besucher waren gegangen - wanderte Ron durch die Gänge des Krankenhauses, um sich die Beine zu vertreten und nicht einzuschlafen. Er fand ein zweites Wartezimmer, eines für die Angehörigen von Patienten, die sich nicht in kritischem Zustand befanden. Der Raum war deutlich einladender, schöner eingerichtet und mit verschiedenen Verkaufsautomaten ausgestattet. Ron erstand eine Dose Diätlimo und eine Tüte Salzbrezeln. Während er geistesabwesend kaute, kam ein kleiner Junge vorbei, der nach Rons Knie greifen zu wollen schien.
»Aaron«, rief die Mutter vom anderen Ende des Zimmers. »Komm her!«
Aaron. Der Name weckte Erinnerungen. Aaron, so hatte auch der Junge geheißen, der von dem von der Grasmähmaschine in die Luft geschleuderten Metallstück am Kopf getroffen worden war. Schädel-Hirn-Trauma, dauerhafte Behinderung, die Familie finanziell ruiniert. Die Geschworenen waren zu dem Schluss gekommen, dass der Hersteller dafür haften musste. Verfahrensfehler waren nicht erkennbar gewesen. Im Augenblick konnte sich Richter Fisk nicht mehr erinnern, warum er solch leichten Herzens mit der Mehrheit für die Aufhebung des Urteils gestimmt hatte.
Damals, vor kaum zwei Monaten, hatte er nicht gewusst, wie sich Eltern fühlen, die um das Leben ihres schwer verletzten Kindes fürchten müssen.
Jetzt, mitten in diesem Albtraum, sah er den Fall in einem anderen Licht. Damals hatte er die Arztberichte in der Sicherheit seines Büros fernab der Realität gelesen. Natürlich hatte er es bedauerlich gefunden, dass der Junge schwer verletzt worden war, aber Unfälle gehörten nun einmal zum Leben. Ob der Unfall vermeidbar gewesen war? Davon war er schon damals überzeugt gewesen, und jetzt erst recht.
Der kleine Aaron war wieder da und starrte die Tüte mit den Salzbrezeln an. Sie zitterte.
»Aaron, lass den Mann in Ruhe«, rief die Mutter.
Ron starrte ebenfalls auf die zitternden Brezeln.
Der Unfall wäre vermeidbar gewesen und hätte sich nicht ereignen dürfen. Wenn sich der Hersteller an die Vorschriften gehalten hätte, wäre die Grasmähmaschine wesentlich sicherer gewesen. Warum hatte er sich damals so bereitwillig für den Schutz des Unternehmens eingesetzt?
Die Sache war erledigt, ein für alle Mal verworfen von fünf angeblich weisen Männern, von denen keiner viel Mitgefühl für das Leid seiner Mitmenschen gezeigt hatte. Er fragte sich, ob die anderen vier - Calligan, Romano, Bateman und Ross -jemals Tag und Nacht durch die katakomben-ähnlichen Gänge eines Krankenhauses gewandert waren, während das Leben ihres Kindes in der Schwebe hing.
Nein, das waren sie nicht. Sonst wären sie nicht so geworden, wie sie waren.
Langsam wurde es Montag. Eine neue Woche begann, die so ganz anders war als alle vor ihr. Ron und Doreen weigerten sich, das Krankenhaus für länger als ein bis zwei Stunden zu verlassen. Josh ging es nicht gut, und sie fürchteten bei jedem Besuch an seinem Bett, ihn zum letzten Mal lebend zusehen. Freunde brachten Kleidung, Essen und Zeitungen und boten an, die Fisks abzulösen, falls sie für ein paar Stunden nach Hause gehen wollten. Aber Ron und Doreen hielten wie Zombies unbeirrt durch, weil sie davon überzeugt
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