Die Berufung
Rand ist kaum zu lesen, aber Josh Fisk steht da nicht.«
»Das kann nicht wahr sein«, meinte Doreen.
»Leider doch, aber darum kümmern wir uns später. Hört mir gut zu, ich erkläre euch jetzt, wie es um Josh steht. Der Ball hat ihn hier getroffen.« Er deutete auf die rechte Schläfe. »Das ist die dünnste Stelle des Schädels, das Schläfenbein. Dieser Riss ist eine sogenannte lineare Fraktur, die etwa fünf Zentimeter lang ist. Direkt unter dem Schädelknochen liegt die Hirnhaut, die durch die mittlere Hirnhautarterie versorgt wird. Bei der Fraktur wurde die Arterie verletzt. Dadurch hat sich zwischen Knochen und Hirnhaut Blut angesammelt, das auf das Gehirn drückt. Dieses sogenannte Epiduralhämatom verursacht einen Anstieg des Hirndrucks. Die einzige Behandlungsmöglichkeit ist jetzt eine Kraniotomie, also eine Öffnung des Schädels, um das Hämatom zu entfernen.«
»O mein Gott!« Doreen bedeckte voller Entsetzen die Augen mit der Hand.
»Hört mir bitte zu«, fuhr Treet fort. »Wir müssen ihn nach Jackson in die Trauma-Abteilung des University Medical Center bringen. Ich schlage vor, wir rufen deren Rettungshubschrauber und lassen ihn abholen.«
Der diensthabende Arzt stürzte herein. »Dem Patienten geht es sehr schlecht«, sagte er zu Dr. Treet. »Sie müssen sofort kommen.«
Als sich Dr. Treet zum Gehen wandte, stand Ron auf und packte ihn am Arm. »Sag mir die Wahrheit, Calvin! Wie ernst ist die Sache?«
»Sehr ernst, Ron. Möglicherweise lebensbedrohlich.«
Josh wurde an Bord des Helikopters verfrachtet. Doreen und Calvin Treet flogen mit ihm, während Ron heimraste, nach Zeke und Clarissa sah und das Notwendigste in eine Reisetasche warf. Dann fuhr er mit überhöhter Geschwindigkeit über die Interstate 55. Sollten sie nur versuchen, ihn aufzuhalten! Wenn er nicht gerade mit Gott um das Leben seines Sohnes feilschte, verfluchte er den Arzt in Russburg, der die falsche CT-Aufnahme erwischt hatte. Und gelegentlich sah er sich um und warf einen Blick auf das fehlerhafte und unberechenbar gefährliche Produkt auf seinem Rücksitz. Aluminiumschläger hatte er noch nie leiden können.
36
Am Samstagmorgen um 8.10 Uhr, etwa dreizehn Stunden nachdem ihn der Ball getroffen hatte, wurde Josh im Medical Center der University of Mississippi in Jackson operiert.
Ron und Doreen warteten gemeinsam mit Freunden, die aus Brookhaven gekommen waren, in der Kapelle des Krankenhauses. Ihr Pastor war bei ihnen. Zu Hause fand im Altarraum der St.-Luke-Kirche eine Gebetswache statt. Gegen Mittag traf Rons Bruder mit Zeke und Clarissa ein, die ebenso verängstigt waren und unter Schock standen wie ihre Eltern. Stunden vergingen, ohne dass sie etwas aus dem Operationssaal gehört hätten. Von Zeit zu Zeit sah Dr. Treet nach ihnen, aber er konnte ihnen nicht viel sagen. Manche der Freunde gingen, dafür erschienen andere, die ihren Platz einnahmen. Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen kamen, warteten, beteten und streiften durch das weitläufige Krankenhaus.
Vier Stunden nachdem die Fisks ihren Sohn zuletzt gesehen hatten, erschien der Chefarzt und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Dr. Treet schloss sich ihnen an. Sie gingen durch einen Gang, um den vielen Menschen zu entkommen. Vor einer Toilettentür blieben sie stehen. Ron und Doreen hielten sich aneinander fest und versuchten, auf das Schlimmste gefasst zu sein. Die Stimme des Arztes klang müde und ernst.
»Er hat die Operation überlebt, und es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Wir haben ein großes Hämatom entfernt, das das Gehirn komprimierte. Der Schädelinnendruck wurde gesenkt, aber es war eine ungewöhnlich starke Gehirnschwellung vorhanden. Sie müssen mit bleibenden Schäden rechnen.«
»Leben« und »Tod« sind einfach zu verstehende Begriffe, aber das Wort »Schäden« ruft unbestimmte Ängste hervor.
»Er wird doch nicht sterben?«, sagte Doreen.
»Im Augenblick ist er am Leben, und seine Vitalzeichen sind gut. Er hat eine neunzigprozentige Überlebenschance. Entscheidend sind die nächsten zweiundsiebzig Stunden.«
»Wie schwer werden diese Schäden sein?«, fragte Ron, der nicht um den heißen Brei herumreden wollte.
»Das lässt sich im Augenblick nicht sagen. Manche Schäden mögen reversibel sein, wenn man ihm genug Zeit lässt und für die richtige Behandlung sorgt. Aber darüber reden wir später. Im Augenblick beten Sie lieber dafür, dass sich sein Zustand in den nächsten drei Tagen bessert.«
Am späten
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