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Die Berufung

Titel: Die Berufung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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Kurtin hatte es sich auf einem Ledersofa bequem gemacht, in einem vorübergehend angemieteten Büro an der Front Street im Zentrum von Hattiesburg, drei Straßenecken vom Gerichtsgebäude entfernt. In eine Biograf ie vertieft, ließ er die Zeit verstreichen - bei einem Stundenhonorar von siebenhundertfünfzig Dollar. Er lauschte gelassen, klappte sein Mobiltelefon zu und sagte: »Aufgeht's. Die Jury ist so weit.« Seine Fußsoldaten, sämtlich in dunklen Anzügen, standen stramm und bereiteten sich darauf vor, ihrem Boss auf seinem Weg zu einem weiteren triumphalen Sieg Geleitschutz zu geben.
    Niemand sprach ein Wort, sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel.
    Anschließend wurden andere Anwälte angerufen, dann die Journalisten, und innerhalb von Minuten hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer auf den Straßen verbreitet.
     
    In einem der obersten Stockwerke eines Hochhauses in Lower Manhattan platzte ein von Panik gepackter junger Mann in eine wichtige Besprechung und flüsterte Mr Carl Trudeau die Neuigkeit ins Ohr. Der verlor umgehend jedes Interesse an dem gerade erörterten Thema, stand abrupt auf und sagte: »Sieht so aus, als hätte die Jury ihr Urteil gefällt.« Damit verließ er den Raum. Er marschierte durch den Flur zu einem geräumigen Eckbüro mit mehreren angrenzenden Räumen, legte sein Sakko ab, lockerte die Krawatte, trat ans Fenster und starrte in die Dämmerung, die sich in der Ferne über den Hudson senkte. Während er wartete, fragte er sich nicht zum ersten Mal, wie es sein konnte, dass das Schicksal eines Großteils seines Geschäftsimperiums vom Urteil von zwölf Durchschnittsexistenzen aus dem hintersten Winkel von Mississippi abhing.
    Bei einem Mann, der so viel wusste, war es erstaunlich, dass er auf diese Frage noch keine Antwort gefunden hatte.
     
    Als die Paytons in der Straße hinter dem Gerichtsgebäude parkten, wurde dieses bereits von allen Seiten gestürmt. Für einen Augenblick blieben sie noch im Auto sitzen, Hand in Hand. Vier Monate lang hatten sie sich bemüht, in der Nähe des Gerichts jede Berührung zu vermeiden. Irgendjemand sah einen immer. Etwa ein Richter oder Journalist. Es war wichtig, so professionell wie möglich zu agieren. Die Leute fanden es überraschend, dass ein Ehepaar gemeinsam eine Kanzlei führte, und die Paytons gaben sich alle Mühe, sich wie Anwaltskollegen und nicht wie Ehepartner zu verhalten.
    Während des Prozesses hatten sich auch außerhalb des Gerichts kaum Gelegenheiten für Berührungen gefunden.
    »Woran denkst du?«, fragte Wes seine Frau, ohne sie anzublicken. Sein Herzschlag raste, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Mit der Linken umklammerte er noch immer das Lenkrad, und er sagte sich permanent, er müsse sich entspannen.
    Entspannen. Was für ein Witz.
    »Ich hatte noch nie solche Angst«, erwiderte Mary Grace.
    »Ich auch nicht.«
    Eine lange Pause. Beide atmeten tief durch und beobachteten den Übertragungswagen eines Fernsehsenders, der fast einen Fußgänger überfahren hätte.
    »Können wir eine Niederlage überleben?«, fragte sie. »Das ist die Frage.«
    »Wir müssen überleben, uns bleibt keine andere Wahl. Aber wir haben nicht verloren.«
    »Wenn du es sagst. Auf geht's.«
    Gemeinsam mit den anderen Mitarbeitern ihrer kleinen Kanzlei betraten sie das Gericht. Im Erdgeschoss wartete wie üblich neben dem Getränkeautomaten ihre Mandantin Jeannette Baker, die Klägerin. Als sie ihre Anwälte sah, brach sie in Tränen aus. Wes ergriff ihren einen Arm, Mary Grace den anderen, und gemeinsam führten sie Jeannette die Treppe hinauf, in den großen Gerichtssaal im ersten Stock. Sie hätten sie genauso gut tragen können. Jeannette wog keine fünfundvierzig Kilogramm und war während des Prozesses um Jahre gealtert. Sie litt an Depressionen, manchmal an Wahnvorstellungen, und obwohl sie nicht magersüchtig war, wollte sie nicht essen. Mit ihren vierunddreißig Jahren hatte sie bereits ihr Kind und ihren Ehemann verloren, und jetzt stand sie am Ende eines entsetzlichen Prozesses, von dem sie insgeheim wünschte, sie hätte ihn nie initiiert.
    Im Gerichtssaal herrschte eine äußerst angespannte Stimmung, fast so, als stünde ein Bombenangriff bevor und als heulten bereits die Sirenen. Dutzende von Leuten rannten hin und her, suchten nach Sitzplätzen oder plapperten nervös, mit unstet umherirrenden Blicken. Als Jared Kurtin, der Verteidiger, mit seiner Armee von Helfern durch eine Seitentür einmarschierte, starrten ihn

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