Die Berufung
überkaufte. Wieder einhundert Dollar für Clete. Er hatte seine Regeln. Wenn er zweitausend Dollar gewonnen hatte, hörte er auf. Wenn er fünfhundert Dollar verloren hatte, hörte er auch auf. Lag er zwischen diesen beiden Grenzwerten, spielte und trank er die ganze Nacht. Das Finanzamt würde nie erfahren, dass er dieses Jahr schon achtzigtausend Dollar beim Spielen gewonnen hatte. Außerdem bekam er den Rum umsonst.
Er warf zwei Jetons in Ivans Richtung und machte sich an den umständlichen Prozess, seinen schweren Körper vom Barhocker zu wuchten.
»Danke, Mr Coley«, sagte Ivan.
»Ist mir wie immer ein Vergnügen.« Clete stopfte sich den Rest der Jetons in die Taschen seines hellbraunen Anzugs. Er trug stets Braun, stets einen Anzug und stets auf Hochglanz polierte Cowboystiefel von Lucchese. Bei einer Größe von einem Meter fünfundneunzig wog er mindestens hundertdreißig Kilo, obwohl das niemand so ganz genau wusste. Allerdings war er eher dick als fett. Schwerfällig ging er zur Bar, wo sein Gesprächspartner auf ihn wartete. Mariin setzte sich an einen Ecktisch mit Blick auf den Spielsaal. Keine Begrüßung, kein Augenkontakt. Clete ließ sich auf einen Stuhl fallen und zog eine Packung Zigaretten heraus. Eine Kellnerin brachte ihnen etwas zu trinken.
»Ich habe das Geld«, sagte Mariin schließlich.
»Wie viel?«
»Die Bedingungen sind gleich geblieben, Clete. Es hat sich nichts geändert. Wir warten nur noch auf ein Ja oder Nein von Ihnen.«
»Und ich frage Sie noch mal: Wer ist >wir«
»Ich gehöre jedenfalls nicht dazu. Ich bin nur ein unabhängiger Subunternehmer, der ein Honorar bekommt, wenn er seine Sache gut gemacht hat. Ich stehe auf keiner Gehaltsliste. Man hat mich beauftragt, Sie als Kandidaten anzuwerben, und wenn Sie jetzt Nein sagen, bekomme ich unter Umständen den Auftrag, jemand anders dafür zu suchen.«
»Wer bezahlt Sie?«
»Das ist vertraulich, Clete. Aber das habe ich Ihnen letzte Woche schon ein Dutzend Mal erklärt.«
»Stimmt. Vielleicht bin ich ja nur ein bisschen schwer von Begriff. Oder nervös. Vielleicht will ich ja eine Antwort auf meine Frage. Jedenfalls mache ich nicht mit, wenn ich die nicht kriege.«
Nach dem, was er bei ihrem erstem Treffen gehört hatte, bezweifelte Mariin, dass Clete Coley zu einhunderttausend Dollar in bar und in unmarkierten Scheinen Nein sagen würde. Mariin hatte das Geld praktisch auf den Tisch gelegt. Einhundert Riesen, wenn er sich als Kandidaten aufstellen ließ und für Unruhe sorgte. Coley würde einen großartigen Kandidaten abgeben - laut, aufdringlich, schrill und imstande, alles zu sagen, ohne sich Gedanken über die Folgen machen zu müssen. Ein Antipolitiker, dem die Journalisten aus der Hand fressen würden.
»Ich kann Ihnen nur so viel sagen«, meinte Mariin schließlich, während er Blickkontakt mit Clete herstellte, was bei ihm ausgesprochen selten vorkam. »Vor fünfzehn Jahren kam in einem sehr weit von hier entfernten County eines Abends ein junger Mann mit seiner jungen Familie vom Kirchbesuch nach Hause. Sie wussten es nicht, aber im Haus - einem sehr hübschen Haus übrigens - waren zwei schwarze Halbstarke, die dort eingebrochen hatten. Die beiden waren mit Crack vollgepumpt und hatten in jeder Tasche eine Pistole, so richtig fiese Kerle. Als die junge Familie nach Hause kam und die Einbrecher überraschte, geriet die Situation außer Kontrolle. Die Mädchen wurden vergewaltigt. Jeder bekam eine Kugel in den Kopf, dann zündeten die Halbstarken das Haus an. Sie wurden am nächsten Tag von der Polizei festgenommen. Volles Geständnis, DNA, alles, was dazugehört. Seitdem sitzen die beiden im Todestrakt von Parchman. Die Familie des jungen Mannes ist sehr, sehr reich. Sein Vater hatte einen Nervenzusammenbruch, der arme Kerl ist völlig ausgef lippt. Aber jetzt ist er wieder gesund. Und stinksauer. Er ist erbost darüber, dass die beiden Halbstarken noch leben. Er ist außer sich vor Wut, weil sein von ihm über alles geliebter Staat nie jemanden hinrichtet. Er hasst das Justizsystem, und ganz besonders hasst er die neun ehrenwerten Mitglieder des Supreme Court. Das Geld kommt von ihm.«
Alles gelogen, aber das gehörte schließlich dazu.
»Die Geschichte gefällt mir.« Clete nickte.
»Die einhunderttausend sind für ihn nur Peanuts. Sie gehören Ihnen, wenn Sie sich aufstellen lassen und über nichts anderes als die Todesstrafe reden. Da kann gar nichts schiefgehen. Die Leute hier lieben die Todesstrafe.
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