Die Berufung
Es würde mich aber nicht wundern. Mit dem Stone-Clan ist nicht zu spaßen. Die Nerven liegen hier blank, wissen Sie. Man braucht nur den Namen Krane zu erwähnen, schon platzt den Leuten der Kragen.«
Sheila hatte nicht vor, den Namen zu erwähnen. Sie würde auch nicht weiter bohren. Die Mechaniker standen auf, streckten sich, nahmen sich jeder einen Zahnstocher und strebten auf die Kasse zu. Babe ging ihnen entgegen und herrschte sie an, während sie das Geld annahm, von jedem rund vier Dollar. Warum sie an einem Samstag arbeiteten? Was sich ihr Boss da eigentlich erlaube? Sheila schaffte es unterdessen, das Sandwich zur Hälfte hinunterzuwürgen.
»Möchten Sie noch eins?«, fragte Babe auf dem Rückweg zu ihr an die Theke.
»Nein, danke. Ich muss jetzt sowieso los.« Zwei Teenager schlenderten herein und ließen sich an einem Tisch nieder.
Sheila bezahlte ihre Rechnung, dankte Babe für die Unterhaltung und versprach, wieder vorbeizukommen. Sie ging zu ihrem Auto und kreuzte dann eine Stunde lang aufs Geratewohl durch die Stadt. Der Zeitschriftenartikel hatte Pine Grove und Pastor Denny Ott erwähnt. Langsam fuhr sie die Gegend um die Kirche herum ab. Ein deprimierender Anblick. Da war der Artikel noch milde gewesen. Sie fand das verlassene Industriegebiet, dann das Krane-Werk, das sich düster drohend hinter dem schützenden Stacheldraht erhob.
Nach zwei Stunden verließ Sheila Bowmore in der Hoffnung, nie zurückkehren zu müssen. Sie verstand die Wut, die zu dem Urteil geführt hatte, doch bei Gericht mussten Emotionen ausgeblendet werden. Es bestand wenig Zweifel daran, dass Krane Chemical verabscheuungswürdig gehandelt hatte. Die Frage war nur, ob ihre Abfallprodukte tatsächlich die Ursache für den Krebs waren. Die Geschworenen dachten das gewiss.
Bald würde es die Aufgabe von Richterin McCarthy und ihren acht Kollegen sein, diese Frage zu klären.
Ihre Fahrt an die Küste wurde genauestens protokolliert. Sie hielt sich fünfundsechzig Minuten in ihrem Haus drei Straßen von der Bay of Biloxi entfernt auf und fuhr dann eine Meile weit in die Howard Street zu ihrer Tochter. Nach einem ausgiebigen Abendessen mit Tochter, Schwiegersohn und zwei kleinen Enkeln kehrte sie in ihr Haus zurück und verbrachte die Nacht dort, offensichtlich allein. Um zehn Uhr am Sonntagmorgen traf sie sich mit einer weiblichen Person zum Brunch im Grand Casino. Eine rasche Überprüfung des Autokennzeichens ergab, dass es sich bei der Person um eine bekannte Scheidungsanwältin aus der Gegend handelte, vermutlich eine alte Freundin. Nach dem Brunch fuhr McCarthy zu ihrem Haus zurück, zog ein Paar Jeans an und brach mit einer Reisetasche wieder auf. Nonstop fuhr sie bis zu ihrer Wohnung im Norden von Jackson, wo sie um 16.10 Uhr eintraf. Drei Stunden später erschien ein Mann (Name: Keith Christian, weiß, vierundvierzig Jahre alt, geschieden, Professor für Geschichte), der offenbar bei einem chinesischen Imbiss großzügig für das Abendessen vorgesorgt hatte. Er verließ die McCarthy-Wohnung erst am nächsten Morgen um 7 Uhr.
Tony Zachary hackte diese Berichte höchstpersönlich in seinen Laptop, der ihm nach wie vor verhasst war. Er war schon vor den Zeiten des Internets nicht gut im Maschineschreiben gewesen, und das hatte sich nur unwesentlich gebessert. Aber diese Informationen durfte man niemandem anvertrauen - keiner Assistentin, keiner Sekretärin. Die Angelegenheit erforderte höchste Geheimhaltung. Die Berichte durften auch weder gefaxt noch gemailt werden. Mr Rinehart bestand darauf, dass sie ausschließlich per Kurier geschickt wurden.
TEIL II - DER WAHLKAMPF
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In Natchez gibt es ein Stück Land, das unterhalb eines Steilhangs liegt und unter dem Namen Underthe-Hill bekannt ist. Es hat eine lange, bewegte Geschichte hinter sich, die mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt auf dem Mississippi beginnt. Die Stadt zog alle an, die nach New Orleans unterwegs waren - Kauf leute, Händler, Schiffskapitäne, Spekulanten und Spieler. Da eine Menge Geld den Besitzer wechselte, blieben dort auch Raufbolde, Vagabunden, Schwindler, Schwarzbrenner, Waffenschmuggler, Nutten und alle möglichen zwielichten Gestalten aus der Unterwelt hängen. Natchez war durch Baumwolle reich geworden, die zum größten Teil über den Hafen der Stadt in Underthe-Hill verschifft und gehandelt wurde. Das schnelle Geld ließ die Nachfrage nach Bars, Spielsalons, Bordellen und billigen Absteigen entstehen. Der junge Mark Twain war in seinen
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