Die Beschenkte
dachte, ich würde es nicht schaffen vorlauter Angst. Aber meine Mutter hat mir den ganzen Weg hinunter gut zugeredet.« Sie starrte in die Flammen. »Meine Mutter hat einen Wachmann mit dem Messer getötet. Wir liefen auf die Berge zu in der Hoffnung, dass der König glaubte, wir würden die Port Road zum Meer nehmen. Aber am zweiten Morgen sahen wir, wie sie über die Felder auf uns zukamen. Meine Mutter verstauchte sich in einem Fuchsbau den Knöchel. Sie konnte nicht rennen. Sie schickte mich voraus, damit ich mich im Wald verstecke.«
Das Mädchen schnaufte heftig, wischte sich wieder über das Gesicht und ballte die Fäuste. Mit großer Willenskraft hielt sie die Tränen zurück, griff nach dem Messer in ihrem Schoß und sagte bitter: »Wenn ich nur Bogenschießen gelernt hätte! Oder wüsste, wie man ein Messer gebraucht! Vielleicht hätte ich meinen Vater töten können, als das alles anfing.«
»Für manches ist es zu spät«, sagte Bo, »aber morgen werde ich ihn töten, bevor er noch mehr anrichtet.«
Bitterblues Kopf fuhr zu ihm herum. »Warum du? Warum nicht sie, wenn sie besser kämpft?«
»Lecks Gabe wirkt bei mir nicht«, sagte Bo. »Aber sie wirkt bei Katsa. Das haben wir heute gemerkt, als wir ihn auf den Feldern trafen. Ich muss ihn töten, weil er mich nicht so manipulieren oder verwirren kann wie Katsa.«
Er bot Bitterblue eine der Wachteln an, die er auf einen Stock gespießt hatte. Sie nahm sie und sah ihn genau an. »Es ist wahr, dass seine Gabe etwas von ihrer Macht über mich verloren hat«, sagte sie, »als er meine Mutter verletzte. Und sie hat etwas von ihrer Macht über meine Mutter verloren, als er mich bedrohte. Aber warum wirkt sie bei dir nicht?«
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte Bo. »Er hat viele Menschen verletzt. Vielleicht gibt es noch mehr, bei denen seine Gabe nur schwach wirkt – aber niemand mag es zugeben, aus Angst vor seiner Rache.«
Bitterblue kniff die Augen zusammen. »Womit hat er dich verletzt?«
»Er hat meinen Großvater entführt«, sagte Bo. »Er hat vor meinen Augen meine Tante ermordet. Er bedroht meine Cousine.«
Diese Antwort schien Bitterblue zu genügen, jedenfalls wandte sie sich ihrer Wachtel zu und aß heißhungrig mehrere Minuten lang. Gelegentlich schaute sie zu ihm hinüber, auf seine Hände, als er sich ums Feuer kümmerte.
»Meine Mutter trug auch viele Ringe, so wie du«, sagte sie. »Du gleichst meiner Mutter sehr, bis auf die Augen. Und du klingst wie sie, wenn du sprichst.« Sie holte tief Luft und starrte auf das Fleisch in ihrer Hand. »Heute Nacht wird er im Wald lagern und morgen weiter nach mir suchen. Ich weiß nicht, wie du ihn finden kannst.«
»Wir haben auch dich gefunden«, sagte Bo, »nicht wahr?«
Ihre Augen schickten ihm einen schnellen Blick, dann wandte sie sich wieder ihrem Essen zu. »Er wird seine persönliche Wache dabeihaben. Sie sind alle Beschenkte. Ich werde dir sagen, was dich erwartet.«
Der Plan war einfach: Bo würde vor Tagesanbruch losziehen, ausgerüstet mit Proviant, einem Pferd, dem Bogen, dem Köcher, einem Dolch und zwei Messern. Er würde zurück in den Wald reiten und dort sein Pferd verstecken. Dann würde er den König suchen – wie lange es auch dauern mochte. Erwürde sich Leck auf die Entfernung eines Pfeilschusses nähern, zielen und schießen. Er würde sich überzeugen, dass der König tot war, und dann würde er laufen, so schnell er konnte, zurück zu seinem Pferd, zurück zum Lager.
Ein einfacher Plan, und Katsa wurde immer besorgter, während sie ihn durchsprachen, weil sie und Bo wussten, dass die Durchführung nicht so einfach war. Der König hatte eine Leibwache, die aus fünf beschenkten Schwertkämpfern bestand. Diese Männer waren kaum eine Bedrohung für Bo, sie standen immer neben dem König, und Bo hatte nicht vor, in ihre Reichweite zu kommen. Es war die äußere Wache des Königs, gegen die er sich wappnen musste. Das waren zehn Männer, die einen großen Kreis um Leck bildeten; in einiger Entfernung von ihm und voneinander würden sie den König auf seinem Weg durch den Wald umgeben. Auch sie waren alle Beschenkte: einige Kämpfer, zwei Scharfschützen mit Pfeil und Bogen, einer mit der Gabe der Schnelligkeit, einer ungeheuer stark, einer, der wie ein Eichhörnchen auf Bäume kletterte und von Ast zu Ast sprang, einer mit außergewöhnlich scharfen Augen und Ohren.
»Den erkennst du an seinem roten Bart«, sagte Bitterblue. »Aber wenn du ihm so nah
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