Die Beschenkte
sie auf das Messer in ihren Händen. »Sie hat mir gesagt, dass er der falsche Mann für eine solche Gabe ist. Er macht kleine und schwache Menschen zu seinem Spielzeug. Es gefällt ihm, anderen Schmerzen zuzufügen.«
Bo ließ die Hand auf Katsas Bein sinken, und nur das hielt sie davon ab, vor Zorn auf die Füße zu schnellen.
»Meine Mutter hat das alles immer wieder vermutet«, fuhr Bitterblue fort, »seit sie ihn kennenlernte. Doch er konnte sie immer so verwirren, dass sie es vergaß. Bis vor ein paar Monaten, als er besonderes Interesse für mich zu zeigen begann.«
Sie holte ein paarmal kurz Atem und schaute Katsa an, dabei flackerte etwas Beklommenes in ihrem Blick. »Ich kann nicht genau sagen, wozu er mich haben will. Er hat schon immer – die Gesellschaft von Mädchen gemocht. Und meine Mutter und ich haben herausgefunden, dass er einige seltsame Angewohnheiten hat. Er schlitzt Tiere mit Messern auf. Er quält sie und hält sie lange am Leben, und dann bringt er sie um.« Sie räusperte sich. »Ich glaube, er macht das nicht nur mit Tieren.«
Gut zu Kindern und hilflosen Geschöpfen, dachte Katsa und hielt Tränen der Wut zurück. Ihr Leben lang hatte sieLecks wohltätigen Ruf geglaubt. Überzeugte er auch seine Opfer, dass er gut zu ihnen war, selbst wenn er sie mit seinen Messern aufschlitzte?
»Er sagte meiner Mutter, dass er Zeit mit mir allein verbringen wolle«, sagte Bitterblue. »Er sagte, dass es an der Zeit sei, seine Tochter besser kennenzulernen. Er war außer sich vor Wut, als sie es ablehnte. Er schlug sie. Er versuchte seine Gabe bei mir anzuwenden und mich dazu zu bringen, dass ich mit ihm zu seinen Käfigen ging, aber immer wenn ich die Verletzungen im Gesicht meiner Mutter sah, erinnerte ich mich an die Wahrheit. Das klärte meinen Verstand, nur ein bisschen, aber genug, dass ich wusste, ich muss mich weigern.«
Dann hatte Bo Recht gehabt. Die Todesfälle an Lecks Hof ergaben für Katsa allmählich einen Sinn. Leck hatte wahrscheinlich viele Menschen umgebracht – Menschen, die ihm mehr Ärger brachten, als sie nützten, weil er sie so schwer verletzt hatte, dass sie anfingen, die Wahrheit zu begreifen.
»Und dann hat er Großvater entführt«, sagte Bitterblue, »weil er wusste, dass meine Mutter niemanden so liebte wie ihren Vater. Er sagte ihr, dass er Großvater foltern würde, wenn sie mich ihm nicht überließ. Er sagte ihr, dass er ihn nach Monsea holen und vor unseren Augen töten würde. Wir hofften, dass es nur seine üblichen Lügen waren. Aber dann bekamen wir Briefe aus Lienid und wussten, dass Großvater wirklich verschwunden war.«
»Großvater wurde weder gefoltert noch getötet«, sagte Bo. »Er ist in Sicherheit.«
»Er hätte mich einfach holen können«, sagte Bitterblue und ihre Stimme brach und wurde plötzlich schrill. »Er hateine ganze Armee, die sich ihm nie widersetzen würde. Aber er hat es nicht getan. Er hat diese – kranke Geduld. Es reizte ihn nicht, uns zu zwingen. Er wollte hören, wie wir ja sagen.«
Weil ihn das mehr befriedigt, dachte Katsa.
»Meine Mutter hat uns in ihren Gemächern verbarrikadiert«, sagte Bitterblue. »Der König hat uns eine Weile ignoriert. Er ließ uns zu essen und zu trinken bringen und Wasser und frische Wäsche. Aber manchmal hat er durch die Tür mit uns gesprochen. Dann versuchte er Mutter zu überreden, dass sie mich hinausschickt. Manchmal hat er mich verwirrt. Manchmal hat er sie verwirrt. Er nannte sehr überzeugende Gründe, warum ich herauskommen sollte, und wir mussten uns immer wieder die Wahrheit ins Gedächtnis rufen. Es hat uns – große Angst gemacht.«
Eine Träne lief ihr übers Gesicht und sie redete schnell weiter, als könnte sie ihre Geschichte nicht länger für sich behalten. »Er schickte uns Tiere, aufgeschlitzte Mäuse, Hunde und Katzen, noch lebendig, schreiend und blutend. Es war schrecklich. Und dann hatte eines Tages das Mädchen, das uns Essen brachte, Schnitte im Gesicht, drei Schlitze auf jeder Wange, die heftig bluteten. Und noch andere Verletzungen, die wir nicht sahen. Sie konnte nicht richtig gehen. Als wir sie fragten, was geschehen war, sagte sie, dass sie sich nicht erinnern könne. Sie war so alt wie ich.«
Von Tränen erstickt, unterbrach sich Bitterblue einen Moment. Sie wischte sich das Gesicht an der Schulter ab. »Da beschloss meine Mutter, dass wir fliehen müssen. Wir banden Leintücher und Decken aneinander und stiegen daran durchs Fenster hinunter. Ich
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