Die Beschenkte
nichts passieren, und es ist das Beste für dich, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Doch Bitterblue würde ihre Kraft in der kommenden Nacht nicht für die Flucht brauchen, dachte Katsa, denn sicher kam Bo jeden Moment auf seinem Pferd über die Klippe geritten.
Die Sonne kroch hinter die Berggipfel im Westen und färbte ihr Felsenlager orange, doch Bo kam immer noch nicht. Katsas Gedanken waren wie erstarrt. Bestimmt würde er in den nächsten Minuten auftauchen, aber für den Fall, dass er nicht kam, weckte sie Bitterblue. Sie sammelte ihre Sachen ein, verwischte die Spuren des Feuers und verstreute das Feuerholz. Sie sattelte das Pferd und schnallte ihre Taschen an den schönen Sattel aus Monsea.
Dann setzte sie sich und starrte auf den Klippenpfad, der im verblassenden Licht gelb und orange leuchtete.
Die Sonne ging unter und Bo war nicht gekommen.
Jetzt konnte Katsa nichts mehr gegen den Gedanken tun, der sich in ihr Hirn drängte – er würde sich nicht länger unterdrücken lassen, wie sehr sie sich auch dagegenstemmte. Bo könnte im Wald sein, verletzt, der König könnte getötet sein und sie alle in Sicherheit, und Bo könnte irgendwo ihre Hilfe brauchen, die sie ihm nicht geben konnte, nur weil der König vielleicht noch lebte. Bo könnte sogar in der Nähe sein, direkt hinter der Klippe, hinkend, und auf sie zu wanken. Vielleicht brauchte er sie, während sie in wenigen Minuten ihr Pferd bestieg und sich in die entgegengesetzte Richtung aus dem Staub machte.
Sie würden aufbrechen, denn sie mussten. Aber sie würden den Pfad wenigstens ein kurzes Stück zurückgehen, vielleicht war Bo doch schon in der Nähe. Katsa schaute sich kurz um und vergewisserte sich, dass sie wirklich kein Zeichen ihrer Anwesenheit hinterlassen hatten. »Also, Prinzessin«, sagte sie, »wir sollten los.« Sie mied Bitterblues Blick und hob sie in den Sattel. Dann band sie die Zügel des Pferdes los und reichte sie ihr. In diesem Moment hörte sie Kieselsteine den Klippenpfad entlangrollen.
Sie rannte zurück zum Pfad. Das Pferd kam über den Kamm der Klippe, mit hängendem Kopf stolperte es den Weg entlang. Zu nah, ein klein bisschen zu nah am Abgrund. Und Bo lag auf dem Pferderücken, er rührte sich nicht, und ein Pfeil stak in seiner Schulter. Sein Hemd war blutdurchtränkt. Und die vielen Pfeile im Hals und in der Flanke des Pferdes versuchte Katsa gar nicht zu zählen, denn plötzlich sprühten Kieselsteine über den Klippenrand. Das Pferd schlitterte und der ganze Pfad rutschte unter den panischen Hufen. Katsa schrie in Gedanken Bos Namen und rannte. Er hob den Kopf und ihre Augen trafen sich. Und das Pferd schrie und kämpfte verzweifelt um sicheren Boden, und sie konnte Bo nicht rechtzeitig erreichen. Das Pferd stürzte über den Rand, und Katsa schrie wieder, diesmal laut, und er verschwand unter ihr, fiel durch das gelbe Licht.
Das Pferd drehte sich strampelnd in der Luft. Bo fiel mit dem Gesicht voraus ins Wasser, das Pferd stürzte hinter ihm hinein und Steine flogen unter Katsas Füßen hoch, als sie denPfad hinunter in die Schlucht stürmte, ohne zu spüren, wie ihre Schienbeine gegen Felsen prallten und Äste ihr ins Gesicht schlugen. Sie wusste nur, dass Bo dort im Wasser war und dass sie ihn herausholen musste.
Nur ein spärliches Wellenkrausen auf der Wasseroberfläche zeigte ihr, wo sie tauchen musste. Sie warf ihre Stiefel ins Schilf und sprang. Erschreckt vom eisigen Wasser sah sie, wo Schlamm und Blasen aufstiegen und wo eine große braune Gestalt sank, während eine andere, kleinere kämpfte. Bo kämpfte, und das bedeutete, er lebte. Sie tauchte näher und sah, womit er kämpfte. Sein Stiefel war im Steigbügel verfangen, der Steigbügel hing am Sattel und das Pferd sank rasch. Bos Bewegungen waren unbeholfen und das Wasser um seine Schulter und seinen Kopf war rot von seinem Blut. Katsa packte seinen Gürtel und tastete ihn ab, bis sie ein Messer fand. Sie zog es heraus und sägte am Steigbügel. Das Leder brach und der Riemen sank mit dem Pferd. Katsa schlang den Arm um Bo und strampelte nach oben. Sie brachen durch die Oberfläche.
Sie trug sein lebloses Gewicht ans Ufer, denn jetzt war er bewusstlos, doch als sie ihn in das Schilf am Rand des Sees schob, kam er plötzlich und heftig zu sich. Er keuchte, hustete und erbrach immer wieder Seewasser. Er würde also nicht ertrinken, doch verbluten konnte er immer noch. »Das andere Pferd!«, rief Katsa Bitterblue zu, die ängstlich in der Nähe
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