Die Beschenkte
»Dann kannst du dich ausruhen.«
Er brauchte einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten. Dann beugte er sich vor und flüsterte in die Pferdemähne:»Ich will nicht ausruhen. Ich will dir sagen können, wenn er kommt.«
Sie waren also nicht ganz ohne seine Gabe, aber er war ganz und gar kopflos. So etwas zu sagen, wenn Bitterblue still und mit großen Augen direkt hinter ihm saß! Vorsicht, signalisierte Katsa ihm. Bitterblue!
»Ich werde euch beide ans Pferd binden«, sagte sie laut, »dann könnt ihr, jeder für sich, entscheiden, ob ihr euch ausruht oder nicht.«
Ruh dich aus, bat sie ihn in Gedanken, während sie ihm ein Seil um die Beine wickelte. Du hilfst uns nicht, wenn du verblutest.
»Ich werde nicht verbluten«, sagte er laut, und Katsa mied Bitterblues Blick, entschlossen, Bo keine Gedanken mehr zu schicken, bis er wieder bei Sinnen war.
Langsam zogen sie weiter nach Süden. Katsa stolperte über Steine und die Wurzeln störrischer Bäume, die sich in Spalten in der Erde bohrten. Je weiter die Nacht fortschritt, desto öfter stolperte sie, und ihr kam der Gedanke, dass sie müde sein könnte. Sie überdachte die letzten Nächte und zählte. Es war ihre zweite schlaflose Nacht, und in der Nacht davor hatten sie nur wenige Stunden geruht. Sie würde also schlafen müssen, bald, aber jetzt durfte sie nicht daran denken. Es hatte keinen Sinn, an das Unmögliche zu denken.
Ein paar Stunden vor Sonnenaufgang fielen ihr die Fische ein, die sie gefangen hatte und die geschuppt und ausgenommen, eingepackt und mit den Taschen ans Pferd gebunden waren. Bei Tageslicht konnten sie nicht das kleinste Feuer riskieren. Sie hatten an diesem Tag sehr wenig gegessen, undsie hatten sehr wenig für den nächsten Tag. Wenn sie nur ein paar Minuten anhielten, konnte sie den Fisch braten. Dann würde sie vor dem nächsten Sonnenuntergang nicht mehr an Essen denken müssen.
Aber auch das war riskant, denn der Feuerschein könnte in der Dunkelheit Aufmerksamkeit erregen.
Da flüsterte Bo ihren Namen, und sie ging zu ihm.
»Da liegt eine Höhle«, flüsterte er, »ein paar Schritte nach Südosten.« Er fuhr mit der Hand durch die Luft und legte sie dann auf ihre Schulter. »Bleib hier neben mir. Ich werde uns hinführen.«
Er lenkte ihre Schritte über Steine und um Felsen. Wenn Katsa weniger müde gewesen wäre, hätte sie die Klarheit zu schätzen gewusst, mit der seine Gabe ihm die Landschaft zeigte. Doch dann waren sie am Eingang zu Bos Höhle und ihre Gedanken waren mit zu viel anderem beschäftigt. Sie musste Bitterblue wecken, losbinden und ihr herunterhelfen. Sie musste Bo vom Pferd und auf den Boden bekommen. Sie musste Holz für ein Feuer suchen und den Fisch braten. Sie musste Bos Schulter neu verbinden, die immer noch blutete, egal wie fest sie den Verband anlegte.
»Schlaf, während der Fisch brät«, sagte er, als sie ihm saubere Stoffstreifen um Arm und Brust band, um das Blut zu stillen. »Katsa! Du musst schlafen. Ich werde dich wecken, wenn wir dich brauchen.«
»Du bist es, der Schlaf nötig hat«, sagte sie.
Da griff er nach ihrem Arm. »Katsa! Schlaf eine Viertelstunde! Niemand ist in der Nähe. Du wirst heute Nacht nicht noch eine Gelegenheit zum Schlafen bekommen.«
Sie setzte sich auf die Fersen zurück und betrachtete ihn,ohne Hemd, bleich, die Augen zusammengekniffen vor Schmerz, mit Abschürfungen und Schwellungen im Gesicht. Er ließ ihren Arm los und seufzte. »Mir ist schwindlig. Bestimmt sehe ich aus wie der Tod, Katsa, aber ich werde nicht verbluten und auch nicht am Schwindel sterben. Schlaf, nur ein paar Minuten!«
Bitterblue trat zu ihnen. »Er hat Recht. Du solltest schlafen. Ich kümmere mich um ihn.« Sie griff nach seiner Jacke und half ihm hinein, wobei sie vorsichtig, behutsam seine verbundene Schulter bewegte. Bestimmt kamen sie ein paar Minuten ohne sie aus, dachte Katsa. Bestimmt wäre es besser für alle, wenn sie ein wenig schlief.
Also legte sie sich vors Feuer und befahl sich, nur eine Viertelstunde lang zu schlafen. Als sie aufwachte, hatten Bo und Bitterblue sich kaum gerührt. Katsa fühlte sich besser.
Sie aßen schweigend und schnell. Bo lehnte sich an die Höhlenwand zurück und schloss die Augen. Er behauptete, wenig Appetit zu haben, doch Katsa hatte kein Mitleid. Sie setzte sich vor ihn und fütterte ihn mit Fischstückchen, bis sie glaubte, er habe genug gegessen.
Katsa erstickte das Feuer mit ihren Stiefeln, und Bitterblue wickelte den restlichen Fisch
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