Die Beschenkte
ein, als Bo sagte: »Es ist gut, dass du nicht dabei warst, Katsa. Ich habe Leck stundenlang über seine Liebe zu seiner entführten Tochter reden hören. Dass es sein Herz brechen würde, sie nicht wiederzufinden.«
Katsa setzte sich zu ihm. Bitterblue kam näher, damit sie sein Flüstern verstehen konnte.
»Ich kam leicht durch den äußeren Kreis der Wachen«, berichtete Bo, »und am frühen Nachmittag schließlich in seine Sichtweite. Seine inneren Wachen umgaben ihn so lückenlos, dass ich keinen Schuss auf ihn abgeben konnte. Ich wartete eine Ewigkeit. Ich folgte ihnen. Sie hörten mich nicht, aber sie entfernten sich nie vom König.«
»Er hat dich erwartet«, sagte Katsa. »Sie waren deinetwegen da.«
Er nickte, dann verzog er das Gesicht.
»Erzähl es uns später, Bo«, sagte Katsa. »Ruh dich jetzt aus.«
»Es ist keine lange Geschichte. Ich entschied schließlich, meine einzige Möglichkeit sei, eine der Wachen zu erschießen. Doch während der Mann fiel, sprang der König natürlich in Deckung. Ich schoss wieder, und mein Pfeil streifte Lecks Hals, aber nur schwach. Das wäre die richtige Aufgabe für dich gewesen, Katsa! Du hättest ihn genau getroffen. Ich habe es nicht geschafft.«
»Nun ja«, sagte Katsa. Ich hätte ihn zunächst mal gar nicht gefunden. Und selbst wenn, hätte ich ihn nie getötet. Das weißt du. Es war für keinen von uns die richtige Aufgabe.
»Danach waren natürlich die Wachen vom inneren Kreis hinter mir her, und dann die vom äußeren, dazu noch seine Soldaten, sobald sie den Alarm gehört hatten. Es – es war ein Blutbad. Ich muss ein Dutzend von ihnen getötet haben. Das war meine einzige Chance zu entkommen, und dann lief ich nach Norden, um sie von eurer Spur abzubringen.« Er schwieg einen Moment, schloss die Augen, öffnete sie wieder und sah Katsa an. »Leck hat einen Bogenschützen, der fast so gut ist wie du, Katsa. Du hast ja gesehen, was er dem Pferd angetan hat.«
Und er hätte dir das Gleiche angetan, wenn du nicht diese neu entdeckte Fähigkeit hättest, Pfeile zu spüren, während sie auf dich zufliegen.
Er lächelte schwach, dann schaute er zu Bitterblue. »Du hast angefangen, mir zu vertrauen«, sagte er.
»Du hast versucht, den König zu töten«, sagte Bitterblue einfach.
»Gut«, sagte Katsa. »Genug geredet.«
Sie wandte sich dem Feuer zu und verteilte die Reste. Sie schoben Bo wieder in den Sattel, und sie band ihre Sachen ans Pferd. Und in Gedanken warnte sie Bo immer wieder, flehte ihn immer wieder an, keine Andeutungen darüber zu machen, was seine Gabe ihm offenbarte.
Im Tageslicht kamen sie schneller voran, doch die Bewegung war anstrengend für Bo. Er beschwerte sich nie über den holprigen Ritt, doch er atmete stoßweise und seine Augen funkelten mit einer Art von Wildheit, die Katsa ebenso leicht als Schmerz erkannte, wie sie Angst erkennen konnte. Sie sah den Schmerz in seinem Gesicht und die Anspannung der Muskeln an Arm und Hals, wenn sie seine Schulter frisch verband.
»Was schmerzt mehr?«, fragte sie ihn früh am Morgen. »Deine Schulter oder dein Kopf?«
»Mein Kopf.«
Ein Mensch mit Kopfschmerzen sollte kein Tier reiten, dessen Schritte in seinem Kopf wie eine Axt klangen, aber Gehen kam nicht in Frage. Er konnte das Gleichgewicht nicht halten, und ihm war schwindlig und übel. Ständig rieb er sich die Augen, sie waren gereizt. Wenigstens blutete seine Schulter nur noch schwach. Reden verwirrte ihn nicht mehr, und endlich schien er sich daran zu erinnern, dass er seine Gabe vor seiner Cousine verbergen wollte.
»Wir kommen nicht schnell genug voran«, sagte er immer wieder. Auch Katsa ärgerte sich über ihr Tempo. Doch sie würde das Pferd erst dann über die steinigen Hänge traben lassen, wenn es seinem Kopf besserging.
Bitterblue war eine größere Hilfe, als Katsa zu hoffen gewagt hatte. Sie schien Bo als ihre besondere Aufgabe zu betrachten. Immer wenn sie anhielten, half sie ihm auf einen Stein. Sie brachte ihm etwas zu essen und Wasser, und wenn Katsa ein paar Minuten wegging, um ein Kaninchen zu jagen, war Bitterblue bei ihrer Rückkehr dabei, die Wunde an Bos Schulter zu reinigen und frisch zu verbinden. Katsa gewöhnte sich allmählich daran, Bo über seiner kleinen Cousine schwanken zu sehen, seine Hand auf ihrer Schulter.
Als die Sonne tiefer sank, spürte Katsa die Müdigkeit der letzten Tagen und der schlaflosen Nächte. Bo und Bitterblue waren auf dem Pferderücken eingeschlafen. Wenn Bo sich jetzt
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