Die Beschenkte
hatte Katsa die Felle der Kaninchen nicht aufbewahrt, die sie getötet hatte?
Sie würde etwas unternehmen müssen. Sie musste etwas Wärmeres zum Anziehen für Bitterblue finden. Denn es war ihre Aufgabe, dieses Mädchen zu beschützen, und sie musste an alles denken. Sie musste so gut für Bitterblue sorgen, dass es Bos Opfer wert war.
In der Morgenröte kamen sie an eine kleine Hütte, die nicht viel mehr zu bieten hatte als ihre vier Wände und ein Dach, vielleicht die verlassene Behausung eines Einsiedlers von Monsea. Sie stand in einer Senke, in der es mehr Gras als Steine gab, mit ein, zwei Bäumen und einem Flecken voll Unkraut, der wahrscheinlich einmal ein Garten gewesen war. Zerbrochene Läden, eine kalte Feuerstelle und eine Staubschicht auf dem rauen Holzboden, auf Tisch, Bett und dem Schrank, der auf drei Beinen stand, dazu eine offene Tür, die schief in den Angeln hing.
»Hier werde ich mich verstecken«, sagte Bo.
»Das ist ein Platz zum Wohnen, Bo«, sagte Katsa, »kein Versteck. Es ist viel zu auffällig, niemand wird vorbeigehen, ohne hineinzuschauen.«
»Aber ich könnte hierbleiben, Katsa, und mich irgendwo in der Nähe verstecken, wenn ich sie kommen höre.«
Und welches Versteck hatte er gespürt? »Bo …«
»Ich frage mich, ob irgendwo in der Umgebung ein See ist. Kommt mit mir, ich bin sicher, dass ich Wasser fließen höre.«
Katsa hörte kein Wasser, Bo also höchstwahrscheinlichauch nicht. Sie seufzte kurz. »Ja, ich glaube, ich höre es auch.«
Sie gingen durch das Gras hinter der Hütte; Bo stützte sich auf Katsa, und Bitterblue führte das Pferd. Bald hörte Katsa tatsächlich Wasser, und als sie auf einen bräunlichen Hügel gestiegen waren und das Gras Steinbrocken wich, sah sie es. Drei große Bäche strömten von den Felsen über ihnen, vereinten sich und stürzten über ein Sims in einen tiefen See. Hier und da hatte das Wasser die Ufer überschwemmt und mehrere kleine Bäche plätscherten nach Osten bergab, dem Wald von Monsea zu.
Sehr gut, signalisierte Katsa Bo. Und wo ist das Versteck?
»Einen solchen Wasserfall gibt es auch beim Schloss meines Bruders Skye in den Bergen«, sagte Bo. »Eines Tages haben wir beim Schwimmen unter Wasser einen Tunnel gefunden, der zu einer Höhle führte.«
Katsa wusste, was das bedeutete, und Bitterblues verwunderter Blick – nein, es wäre richtiger, von einem misstrauischen Blick zu sprechen – ließ darauf schließen, dass Bo schon mehr als genug gesagt hatte. Katsa half Bo, sich auf den Boden zu setzen. Sie zog einen ihrer Stiefel aus. »Wenn es in diesem Teich ein Versteck gibt, dann finde ich es für dich, Bo. Aber dass ein Versteck existiert, heißt noch nicht, dass es dir etwas nützt. Du kannst nicht allein von der Hütte bis zu diesem Teich gehen.«
»Ich kann es«, sagte er, »wenn es mir das Leben rettet.«
»Wie denn? Kriechen?«
»Kriechen ist nichts Beschämendes, wenn man nicht gehen kann. Und zum Schwimmen braucht man weniger Gleichgewicht.«
Sie funkelte ihn wütend an und er erwiderte den Blick gelassen, höchstens ein ganz klein wenig belustigt. Und warum sollte er nicht belustigt sein? Denn gleich würde sie in das eiskalte Wasser tauchen und einen Tunnel suchen, von dem er bereits wusste, dass es ihn gab, und eine Höhle erkunden, von der er schon die genaue Größe, Form und Lage kannte.
»Ich ziehe mich jetzt aus«, sagte sie, »also schau weg, Prinz.« Wenigstens ihre Kleidung konnte sie schonen; und wenn diese ganze Episode nur eine Vorstellung für Bitterblue war, dann konnten sie auch so tun, als ob Bo sie nicht unbekleidet sehen dürfte. Katsa glaubte allerdings, dass Bitterblue sich davon genauso wenig täuschen ließ wie vom Rest. Sie stand neben dem Pferd und behielt ihre Meinung für sich; ihre Augen waren groß und kindlich, aber sehr aufmerksam.
Katsa seufzte. Sie zog ihre Jacke aus. Zeig mir die richtige Richtung, Bo.
Sie folgte seinem Blick zum Fuß des Wasserfalls, dann warf sie ihre Hose auf die Steine neben ihrer Jacke und den Stiefeln. Sie biss die Zähne zusammen gegen die Kälte und ging in den See. Der Grund fiel steil ab, und mit einem Schrei tauchte sie unter und schwamm.
Weit unter ihr schimmerten grüne Steine auf dem Grund, und silbrige Fische blitzten im Licht. Die Tiefe dieses Wasserlochs überraschte sie, während sie auf den Wasserfall zukraulte. In den Blasen und Wirbeln an seinem Fuß konnte sie fast nichts sehen, doch sie tastete sich mit den Händen an den Felsen
Weitere Kostenlose Bücher