Die Beschenkte
Erben hätten – und aus denselben Gründen wie vermutlich die meisten anderen Menschen. Und dann kam eines Tages ein Junge an ihren Hof, ein hübscher Junge von etwa dreizehn Jahren, mit klugem Gesicht und einer Klappe über einem Auge, das er früh verloren hatte. Er erzählte nicht, woher er kam oder wer seine Eltern waren oder was mit seinem Auge geschehen war. Er kam einfach bettelnd an den Hof und erzählte Geschichten für Essen und Geld.
Die Diener nahmen ihn auf, weil er so wunderbare Geschichten erzählte – wilde Geschichten über einen Ort jenseits der sieben Königreiche, wo Ungeheuer aus Meer und Luft auftauchten, Armeen aus Höhlen in den Bergen stürmten und die Menschen anders waren als alle, die wir je gekannt haben. Schließlich hörten der König und die Königin von ihm, und er wurde vor sie gebracht, um seine Geschichten zu erzählen. Und der Junge verzauberte sie völlig – verzauberte sie vom ersten Tag an. Sie bemitleideten ihn wegen seiner Armut und Einsamkeit und wegen seines fehlenden Auges. Sie fingen an, ihn zu ihren Mahlzeiten zu holen, nach ihm zu fragen, wenn sie von langen Reisen zurückkamen,oder ihn abends in ihre Räume zu rufen. Sie behandelten ihn wie einen jungen Adligen. Er bekam Unterricht und lernte zu kämpfen und zu reiten. Sie behandelten ihn fast wie einen eigenen Sohn. Und als der Junge sechzehn wurde und der König und die Königin immer noch kein eigenes Kind hatten, tat der König etwas Außergewöhnliches. Er berief den Jungen zu seinem Erben.«
»Obwohl sie nichts über seine Vergangenheit wussten?«
»Obwohl sie nichts über seine Vergangenheit wussten. Und hier wird die Geschichte wirklich interessant, Katsa. Denn weniger als eine Woche nachdem der König den Jungen zu seinem Erben gemacht hatte, starben König und Königin an einer plötzlichen Erkrankung. Und ihre beiden engsten Ratgeber verzweifelten und warfen sich in den Fluss. So wird es erzählt. Ich glaube, es gab keine Zeugen.«
Katsa stützte sich auf den Ellbogen und starrte ihn an.
»Findest du das nicht seltsam?«, fragte er. »Ich fand es immer seltsam. Aber die Menschen in Monsea haben es nie hinterfragt, und alle in meiner Familie, die Leck kennengelernt haben, sagen mir, es sei unsinnig, Fragen zu stellen. Sie sagen, Leck sei ausgesprochen bezaubernd, selbst seine Augenklappe sei bezaubernd. Sie sagen, er habe schrecklich um den König und die Königin getrauert und könne unmöglich etwas mit ihrem Tod zu tun gehabt haben.«
»Ich habe nie von dieser Geschichte gehört«, sagte Katsa. »Ich habe noch nicht einmal gewusst, dass Leck ein Auge fehlt. Bist du ihm je begegnet?«
»Nein«, antwortete Bo. »Aber ich hatte immer das Gefühl, ich würde ihn weniger mögen als andere. Trotz seines Rufs, gut zu den Kleinen und Machtlosen zu sein.« Er gähnte unddrehte sich auf die Seite. »Und ich nehme an, wir werden beide bald erfahren, ob wir ihn mögen, wenn alles so geht, wie ich erwarte. Gute Nacht, Katsa. Morgen könnten wir den Gasthof erreichen.«
Katsa schloss die Augen und horchte auf seinen Atem, der ruhig und gleichmäßig wurde. Sie dachte über die Geschichte nach, die er erzählt hatte. Es war schwierig, den Ruf von König Leck mit dieser sonderbaren Geschichte in Einklang zu bringen. Vielleicht war er ja trotzdem unschuldig. Vielleicht gab es eine logische Erklärung.
Sie fragte sich, wie sie im Gasthof aufgenommen werden würden und ob sie das Glück haben würden, den Weg von jemandem zu kreuzen, der ihnen die gesuchten Informationen lieferte. Sie horchte auf die Geräusche vom Teich und die Brise im Gras.
Als sie glaubte, er sei eingeschlafen, sagte sie einmal leise seinen Namen. Er regte sich nicht. Jetzt dachte sie den Namen leise wie ein Flüstern in ihren Gedanken. Wieder regte er sich nicht, und sein Atemrhythmus veränderte sich nicht.
Er schlief.
Katsa atmete langsam aus.
Sie war die größte Närrin in allen sieben Königreichen.
Sie kämpfte fast täglich mit ihm, kannte jeden Teil seines Körpers, hatte auf seinem Bauch gesessen und sich mit ihm auf dem Boden gewälzt und konnte den Druck seines Armes wahrscheinlich schneller identifizieren, als jede Ehefrau die Umarmung ihres eigenen Mannes erkannte – warum hatte sie dann der Anblick seiner Arme und Schultern in solche Verlegenheit gebracht? Sie hatte schon Tausende Männer ohne Hemd gesehen, in den Übungsräumen oder auf Reisenmit Giddon und Oll. Raffin zog sich praktisch vor ihr aus, so vertraut
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