Die Beschleunigung der Angst
lösen.
»So, jetzt aber. Verdammt,
die waren ganz schön fest.«
Marco stand auf und klappte
sein Messer zusammen, ließ es wieder in der Hosentasche verschwinden.
Daniel ließ die Arme in den
Schoß sinken. Er wusste nicht, wie lange er mit den Händen über den Kopf
gefesselt gewesen war. Zwei Stunden, vielleicht zweieinhalb. Auf jeden Fall
eine halbe Ewigkeit. Seine Arme fühlten sich an, als wären sie die Gliedmaßen
von jemand anderem.
»Kommst du? Wir haben nicht
viel Zeit.«
Daniel versuchte, sich mit
den Armen aus der sitzenden Haltung hochzudrücken, doch sie knickten weg. Er
ergriff Marcos angebotene Hand und ließ sich hochziehen.
Als er stand, wandte er sich
an Karla.
»Ich bin gleich wieder da.«
Sie sagte nichts. Ihre
Augen, kurz vorm Überlaufen und aufgerissen, waren Antwort genug. Sie hatte
Angst, den einzigen Vertrauten in diesem Haus zu verlieren.
»Komm jetzt«, sagte Marco.
Seine Stimme hatte wieder den befehlsgewohnten Tonfall angenommen, den Daniel
aus dem Wortgefecht mit Kurt kannte.
Daniel ging voraus in den
Flur. Er ging in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Durch die
ausgefranste Türöffnung des ehemaligen Billardzimmers konnte er Keiler
erkennen, der, den Kopf zwischen den Knien, an der Wand saß. Als er Daniel und
Marco hörte, hob er den Kopf, wischte sich mit einem Ärmel über das Gesicht und
sah sie an. Er hatte geweint, versuchte es jedoch hinter einer Hand zu
verstecken.
»Alles in Ordnung?«, fragte
Marco ihn.
»Ja, geht schon. Soll ich
dir was helfen?«
»Nein, alles klar. Ruh dich
noch aus. Daniel und ich müssen nur kurz was erledigen. Sieh zu, dass du fit
wirst, Xerxes kommt bald.«
Keilers Gesicht wurde
finster, als er den Namen des Mannes hörte.
»Was glaubst du, wird er
dazu sagen, dass es in der Bank schiefgelaufen ist?«
»Es ist nichts
schiefgelaufen. Es lief nur nicht so glatt wie erhofft. Und außerdem haben wir
das, was er haben will. Nur das ist wichtig für ihn.«
Keiler schien nicht
überzeugt.
»Meinst du?«, fragte er.
Keiler hatte Angst. Ebenso
wie Marco hatte Keiler eine Scheißangst vor Xerxes. Daniel wusste nicht, wer
Xerxes war, aber er war sich sicher, dass er ihn nicht kennenlernen wollte.
»Wir sollten nur seine Ware
besorgen. Alles andere ist zweitrangig.«
In Daniels Ohren hörten sich
Marcos Beteuerungen an, als würde er sich selbst Mut zusprechen wollen. Und
auch Keiler schien seinem Anführer die Zuversicht nicht abzunehmen, zumindest
deutete Daniel den Blick von Piets Richter so. Doch Keiler sagte nichts.
»Weiter geht‘s«, sagte Marco
und tippte Daniel mit der Waffenmündung zwischen die Schulterblätter.
Daniel setzte sich in
Bewegung, vorbei am Treppenhaus und weiter den Flur hinab.
»Warum seid ihr in die Villa
gekommen, obwohl draußen ein Streifenwagen steht?«, fragte Daniel, als sie die
Eingangshalle betreten hatten. »Das verstehe ich nicht.«
»Wir haben den Wagen nicht
gesehen. Wir kamen von der anderen Seite des Hauses und sind durch einen
Seiteneingang reingekommen. Von dort war nichts zu sehen.«
Daniel ging weiter den Gang
entlang. Eine Kerze, die noch nicht gebrannt hatte, als er den Flur in die
Gegenrichtung entlanggeschritten war, beleuchtete kahle Wände, die über und
über mit Graffiti beschmiert waren. Einer der Sprüche hätte ihn zum Lachen
gebracht, wäre er alleine oder mit Thomas hier gewesen:
Sag der Stimmung, wir wären
dann so weit.
»Auf jeden Fall vielen Dank
für euer Erscheinen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ihr nicht gekommen
wärt.«
»Das kann ich dir in etwa
sagen. Zuerst hätte dieses kranke Arschloch, dem Keiler das Hirn weggepustet
hat, deine Freundin vergewaltigt und sie getötet. Du wärst danach drangewesen.
Aber du weißt schon, dass ich gerade mit einer Pistole auf deinen Rücken ziele,
oder? Also danke mir lieber nicht zu früh.«
Daniel glaubte ein Lächeln
zu hören, das Marcos Worte abmilderte. Er öffnete die Haustür und trat ins
Freie. Jetzt war es bitterkalt, und sofort bildete sich Gänsehaut auf Daniels
Unterarmen. Nach dem latenten Schimmelgeruch im Haus war es befreiend, wie die
frische klare Luft sich in seine Nasenlöcher drängte. Er atmete tief ein, stieß
die Luft wieder aus, nur um seine Lungen sofort wieder mit reinem Sauerstoff zu
füllen. Er stieg die Stufen hinunter und lief um die Baumkrone herum zum
Streifenwagen.
»Ich denke nicht, dass du
uns umbringst«, sagte Daniel. »Du scheinst ein netter Mensch zu sein. Trotz
allem.«
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