Die beste Lage: Roman (German Edition)
berufen kann, da die Einrichtung des Einwohnerverzeichnisses weniger als zweihundert Jahre zurückreicht. Und was sind schon zweihundert Jahre im Leben einer Dynastie?
Wenn man also nicht inmitten von Registern voller getrockneter Larven, die sich bestenfalls in den staubigen Schränken oft baufälliger Pfarrkirchen angesammelt haben, alt und grau werden will, muss man schon genau wissen, wo Hand anzulegen ist. Das bedarf einer gewissen Erfahrung, und Riccardo hatte sich bisher nur ein einziges Mal auf ein solches Unternehmen eingelassen. Und auch bei diesem einen Mal hatte er lediglich dem eigentlichen Forscher assistiert, der, streng genommen, eine Forscherin gewesen war, und bei ihrer gemeinsamen Arbeit hatten die beiden etwas ganz anderes entdeckt als die Wurzel einer Dynastie.
Die andere
Angekündigt durch einen Brief des Professors, dessen Assistent Riccardo einmal gewesen war, der dann aber nach Amerika gegangen war und ihn im Stich gelassen hatte, war die fragliche Wissenschaftlerin – niemand anderer als Chatryn Wallitriny, also die Frau, an die Fusco in letzter Zeit immer öfter zurückdachte – an den Gestaden der Basilikata gelandet, um, fünfzig Jahre, nachdem Banfield in einem kleinen lukanischen Dorf seine Theorie über die Stabilität des »amoralischen Familismus« entwickelt hatte, diese auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen. Am Ende ihres Aufenthalts hatte sie, eben dank Riccardo, die Bestätigung dafür gefunden, dass der einfache Familismus – oder die Bindung an die Familie – in der Gesellschaft nach wie vor gut verankert war.
Als Riccardo, der sie am Bahnhof abholen wollte, ihrer ansichtig wurde, begriff er schlagartig, dass Chatryn die Frau seines Lebens sein könnte, oder wenigstens die andere Frau seines Lebens, da er zu jener Zeit schon verheiratet und Vater zweier Töchter war. Doch er hatte sich, nachdem er mit ihr die aufregendste seiner Liebesgeschichten erlebt hatte, für seine Familie entschieden und war, statt mit Chatryn nach Amerika zu gehen, bei Eleonora geblieben. Wie oft er das in der Folge noch bereuen sollte, lässt sich leicht erahnen.
Chatryn war die typische junge amerikanische Intellektuelle, nervös, schlank, mit willensstarkem Kinn, aber dennoch imstande, einen Mann auf den ersten Blick zu verführen, indem sie ihn durch ihre schwarz umrandete Brille hindurch unverschämt fixierte, ihre x-te Lucky Strike anzündete und mit ihrer tiefen Stimme, die ihr einen leicht obszönen Zauber verlieh, merkwürdig gedehnt auf ihn einredete. Mit ihren Kleidern im kunstvollen Gammellook war sie ein Snob, wie er im Buche steht, aber doch bereit, sich angesichts eines gewöhnlichen Sonnenuntergangs oder des unverfälschten Lebens der Bauern zu Begeisterungsstürmen hinreißen zu lassen – nicht umsonst war sie eigens aus Amerika angereist, um dieses Leben zu studieren. Und Riccardo, der damals noch an seiner Studie Die Gänse auf dem Markt arbeitete, hatte sich keine großen Ausreden aus den Fingern saugen müssen, um seiner Frau klarzumachen, dass er einen Monat mit seiner neuen amerikanischen Liebe verbringen musste. Einen Monat in Chiaromonte. Den unvergesslichsten in seinem – und vielleicht auch in Chatryns – Leben.
Verbunden durch die Leidenschaft für die Ethnologie und das Leben in der freien Natur, konnten sie, beide »Vedutisten«, stundenlang vor einer Landschaft sitzen, die sie dann »rezensierten«, indem sie sie mit anderen verglichen, die sie gesehen hatten, oder mit derselben am selben Tag, aber zu unterschiedlichen Stunden und mit unterschiedlicher Beleuchtung, natürlich nicht, ohne zuvor bei diesem Anblick gefickt zu haben, denn Sex war die zweite Leidenschaft, die sie miteinander teilten.
Im Grunde taten sie nicht viel mehr, als zu vögeln: tagsüber, wenn Chatryn nicht gerade mit dem Tonbandgerät unterwegs war, um die Tagelöhner und ihre Frauen zu interviewen, und sie zu zweit durch die blühenden Felder streiften. Am späteren Nachmittag, wenn sie nackt durch die Wälder wanderten – Chatryn bezeichnete sich selbst als Nudistin, aber Riccardo fand es stimulierender, in ihr eine einfache Exhibitionistin zu sehen –, bevor sie sich wieder anzogen und bei den Bauern aufkreuzten, deren Häuser, im Gegensatz zu Banfields Zeiten, mit jeder Annehmlichkeit des modernen Lebens ausgestattet waren. Und nachts, in ihrem Nest im alten Pfarrhaus, nachdem sie in der einzigen tristen Dorfschenke Wein – selbstverständlich Aglianico – getrunken und die
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