Die beste Lage: Roman (German Edition)
Stammgäste die Amerikanerin mit Blicken ausgezogen hatten, wobei es allerdings nur wenig auszuziehen gab.
Und es war so süß, am Morgen zu den Klängen der Musicalmelodien von Irving Berlin, Jerome Kern und George und Ira Gershwin aufzuwachen, die Chatryn einer altersschwachen Orgel entlockte, obwohl der Tag kaum dämmerte – aber so war sie eben geschaffen. Und schließlich war sie sehr gut geschaffen, sagte sich Riccardo und bewunderte sie, wenn sie dann nackt ans Bett trat und, nachdem sie ihre Finger so geschickt über das Instrument des Pfarrhauses hatte gleiten lassen, sie jetzt mit der gleichen Geschicklichkeit über das seine gleiten ließ.
Kurzum, es war das Paradies.
Doch die Zeit, die Chatryns Universität ihr für ihre Forschungen eingeräumt hatte, war schnell abgelaufen. Sie aber hatte noch nicht nach Amerika zurückkehren wollen und sich einem zweiten Projekt gewidmet. Ausgestattet mit einem Master in Archivwissenschaften, hatte sie nämlich kurz vor ihrem Rückreisetermin von Andrew Sangallo, dem Leiter des einschlägigen Departments und einem ihrer schüchternen Verehrer, den Auftrag erhalten, vor Ort für einige reiche Italoamerikaner deren Stammbäume aufzustellen.
Bei dieser Gelegenheit kletterte Riccardo, um weiter mit Chatryn zusammen sein zu können, geschickt auf mehr als nur ein paar Stammbäume – tatsächlich war es ein ganzer Wald von Stammbäumen, darunter der einer Familie von New Yorker Magnaten, den di Lontrones, und der des berühmten, aus Muro Lucano stammenden symbolistisch-futuristischen Malers Joseph Stella, des Schöpfers einer unvergesslichen Brooklyn Bridge . Aber seit damals waren fast zehn Jahre vergangen, und die wenigen Kenntnisse, die er sich angeeignet hatte, waren fast völlig in Vergessenheit geraten.
Während er nun die Kirchenbücher der Pfarrei durchblätterte, der Staub an seiner dank der großen frühsommerlichen Hitze verschwitzten Haut kleben blieb, die Milben, die von diesen Seiten aufwirbelten, ihn zum Niesen reizten und er nicht zu dem geringsten Ergebnis gelangte, trauerte er Chatryn nach und dachte, dass alles viel einfacher wäre, wenn er sie an seiner Seite hätte. Und je länger er das dachte, desto überzeugter war er, dass das nicht nur für diese Recherchen galt, sondern eigentlich für sein ganzes Leben.
Die Wahrheit war, dass Riccardo, seit Chatryn nach Amerika zurückgekehrt war, nie aufgehört hatte, an sie zu denken, obwohl sie sich nicht einmal mehr geschrieben hatten, und dass er, trotz der Zeit, die inzwischen vergangen war, das Gefühl hatte, ihre Wege würden sich früher oder später noch einmal kreuzen. Vor allem seit die ersten ernsthaften Probleme mit Eleonora aufgetaucht waren, hatte er oft davon fantasiert, ihr in einer Art Kurzschlusshandlung nachzureisen. Aber was würde Chatryn dazu sagen? Wenn ihre Geschichte zu Ende war, dann schließlich deshalb, weil er es so entschieden hatte, und nach so vielen Jahren fällt jede Liebe einmal der Vergessenheit anheim. Jetzt allerdings wünschte sich Riccardo mehr denn je, sie wiederzutreffen, und auch nach dem x-ten Vormittag ergebnisloser Recherchen dachte er wieder daran und beschloss, statt in die Pension zurückzukehren, ein paar Schritte durch die schöne schattige Allee zu gehen, die zu der am Dorfrand gelegenen Klosterkirche führte.
Dieser Ort würde Chatryn bestimmt gefallen, sagte er sich.
Briganten und Edelleute
Und in diesem Augenblick befand sich Riccardo Fusco dank eines jener seltsamen Scherze, die sich das Schicksal hin und wieder erlaubt – und deren Protagonisten sich ihrer manchmal bewusst sind, manchmal, wie in diesem Falle, aber auch nicht –, auf derselben Straße, die, genau am selben Tag und zur gleichen Stunde, nur einhundertfünfundvierzig Jahre früher, Graziantonio Dell’Arcos Ururgroßvater entlanggegangen war. Und der hieß nicht nur wie sein Nachkomme, der lukanische Tycoon, der ihm auch sehr viel mehr ähnelte als seinem Vater Michelantonio, ja, er war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten.
Der ältere Graziantonio befand sich auf dem Rückweg vom Notar, bei dem er soeben unter die Urkunde über den Kauf des schönsten Hauses im Dorf seine Unterschrift gesetzt hatte. Ausgerechnet er, der ein paar Monate zuvor noch der ärmste Schlucker des ganzen Dorfs gewesen war. Er war erfolgreich aus einer großen Unternehmung – nennen wir es so – hervorgegangen, der größten und, zumindest fürs Erste, einträglichsten seines Lebens. Dell’Arcos
Weitere Kostenlose Bücher