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Die beste Lage: Roman (German Edition)

Die beste Lage: Roman (German Edition)

Titel: Die beste Lage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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zu begreifen ist, wie es angesichts der Normalität ihrer früheren Existenz jemals dazu hatte kommen können. Und Turmkrähe war tatsächlich ein Kind wie viele andere gewesen. Ja, unter den vielen war er sogar am meisten verhätschelt worden, eben wegen seines Engelsgesichts. Das er immer noch hatte, obwohl er sich in der Zwischenzeit in einen brutalen Verbrecher verwandelt hatte.
    Er hatte auch noch dieselbe Stimme. Eine geradezu liebliche Stimme, wie Graziantonio bemerkte, sobald Turmkrähe auf ihn zukam und etwas sagte, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Oho, wen sieht man denn da? Meinen lieben Landsmann …« – auf das gewöhnlich ein »Einen Moment noch, und du bist ein toter Mann!« folgte. So pflegte der Bandit, wie Graziantonio im Dorf hatte erzählen hören, jene Ferrandinesen, die ihm zu begegnen das Pech hatten, anzubrüllen, bevor er ihnen mit seinem großen Messer mit dem grauen Perlmuttgriff die Kehle aufschlitzte.
    Dieses Mal jedoch lenkte Turmkrähe seine Wut auf die Männer, die Dell’Arco gefangen genommen hatten, versetzte ihnen Fußtritte und verletzte einige mit seinem kostbaren Perlmuttmesser, das er aus dem farblich genau darauf abgestimmten Kummerbund aus grauem Satin herausgezogen hatte. Dabei schrie er sie an: »Ihr Schurken, nicht einmal vor einem meiner Landsleute habt ihr Respekt!« Dann schloss er ihn, seinen Landsmann, sogar in die Arme und führte ihn, brüderlich untergehakt, in die Höhle hinein, wo ein schäbiges Zelt aufgebaut war, das sich aber im Inneren als so prächtig wie das eines Sultans entpuppte, denn es war mit lauter kostbaren Stoffen und Teppichen ausgekleidet. Dort begann Turmkrähe auf ihn einzureden, wie man mit einem alten, nie vergessenen Freund spricht, sodass Graziantonio – dem zwei Brigantinnen, die noch finsterer aussahen als ihre männlichen Kollegen, alle möglichen Köstlichkeiten kredenzt hatten und die dann ebenso lautlos, wie sie erschienen waren, wieder verschwunden waren – schnell begriff, dass hinter dieser Behandlung eine klare Absicht stecken musste. Was auch tatsächlich der Fall war.
    Das freudlose Leben des Briganten
    Nachdem Turmkrähe sich erkundigt hatte, ob Graziantonio noch im Dienste von Cosimino Gigli Gaudioso stehe, platzte er tatsächlich mit einem echten Hammer heraus: »Ich würde die Hälfte meines Goldes hergeben, wenn ich nur mit dir zusammen sein könnte …« Dann blickte er ihn an und seufzte.
    Graziantonio blieb die Spucke weg.
    Da brach Turmkrähe in Gelächter aus und rückte näher an ihn heran, um leiser und im heimatlichen Dialekt mit ihm zu sprechen.
    »Ich weiß, mein Wunsch kommt dir komisch vor. Aber glaub mir, nichts wäre mir im Moment lieber.«
    Graziantonio starrte ihn weiter an, ohne Worte zu finden. Nun schüttelte der Räuberhauptmann den Kopf. »Ich merke, dass du noch immer nichts kapierst«, sagte er, stand auf und bedeutete ihm, ihm in eine dunkle Ecke des Zelts zu folgen, die er dann mit dem massiven Kerzenleuchter, den er vom Tisch mitgenommen hatte, ausleuchtete.
    In der Ecke erhob sich eine kleine Pyramide aus Beuteln, Köfferchen und Satteltaschen. »Mach irgendwas davon auf!«, befahl er Dell’Arco.
    Das erstbeste Behältnis war prall mit Geld gefüllt.
    »Was meinst du?«, sagte der Schlächter. »Hat dein Marchese jemals so viel Geld besessen?«
    »Woher willst du das wissen?«, fragte ihn der andere, bevor er noch richtig nachgedacht hatte.
    »Ich hab meine Informanten. Nicht umsonst wird man der berühmteste Brigant im Königreich Neapel … Der muss schon wissen, wen er ausraubt, oder? Aber was zum Teufel mache ich mit dem ganzen Zeug? Du siehst doch, wie ich lebe, oder?«
    »Ich habe nicht gerade den Eindruck, dass es dir schlecht geht.«
    »Ja, verglichen mit den Zeiten, als wir von der Fürsorge der Priester gelebt haben, hab ich Fortschritte gemacht, das leugne ich nicht … Aber das Brigantenleben ist ziemlich hart. Dich hat es jetzt in dieses neue Lager verschlagen. Hier haben wir höchstens ein paar Monate Ruhe, wenn alles gut geht. Dann müssen wir uns ein anderes suchen. Wir sind im Krieg, mein Freund! Und ich kann keinem trauen, nicht mal meinen eigenen Männern. Den Frauen auch nicht. Wenn man die überhaupt Frauen nennen kann … Hast du gesehen, was für Schreckschrauben das sind? Und wenn ich auch ohne allzu große Mühen ein Vermögen angehäuft hab, ist es grad so, als hätte ich keinen Taler in der Tasche. Ich kann nicht mal mehr irgendein Scheißkaff

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