Die Beste Zum Schluss
uns zu, und er bat mich, so lange an Bord zu bleiben, bis die neuen Abläufe sich automatisiert haben.«
Ich versuche zu verstehen, was er da sagt. Noch ein Jahr? Das bedeutet noch ein Jahr Vanessa und noch ein Jahr keinen Chefredakteurssessel.
»Ich wollte, dass du es von mir erfährst«, sagt er.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann ihn nur anstarren und versuchen zu verstehen, was das bedeutet. Noch ein Jahr mit Rene und den Kindern in einer zu engen Wohnung. Kein eigenes Schlafzimmer für Rene, kein eigenes Zimmer für Lola, kein Garten für uns alle. Noch ein Jahr Scheißthemen.
»Sorry«, sagt er noch mal, »aber der Verleger hat das entschieden, ich kann da nichts machen.«
Eine Minute später stehe ich im Flur vor seinem Büro. War was?
Lars kommt mir im Flur entgegen. Als er mich sieht, verzieht sich sein Gesicht zu einem Ausdruck größter Freude.
»Hallihallo, da bist du ja …« Er bleibt vor mir stehen und grinst von einem Ohr bis zum anderen wie ein bekifftes Honigkuchenpferd. »Die Kleine bei der Party, ihr wohnt doch zusammen, oder? Ich weiß, sie ist lesbisch, aber ist sie denn so richtig drüben? Ich meine bemerkt zu haben, dass sie mich … na ja … du weißt schon …« Er blinzelt mir zu. »Ein guter Schwimmer kennt beide Ufer, hehe.«
Ich schaffe es irgendwie, ihm keine reinzuhauen, und frage ihn, ob er was von Umstrukturierungen weiß. Er nickt, weiß aber nichts Genaues. Dass Gerd noch ein Jahr dranhängt, hat er allerdings schon gehört. Prima.
Auf dem Weg zu meinem Büro stecke ich den Kopf in Sarahs Büro. Sie weiß immer noch nicht, wen t r rumgekriegt hat, aber das mit Gerd ist für sie ein alter Hut. Als ich sie frage, wieso sie mir nichts davon gesagt hat, staunt sie. Anscheinend erfahre ich es als Letzter.
In meinem Büro lasse ich mich in meinen stellvertretenden Chefsessel fallen, der es allem Anschein nach noch länger bleiben wird. Okay, es ist nur ein Job. Weder bin ich krank, noch wird jemand sterben, den ich liebe, noch werde ich verhungern, aber … es ist wie in einer langen Beziehung: Dein Partner kann dir beichten, dass er einen One-Night-Stand hatte, aber wenn du auf dem Flur erfährst, dass es alle anderen schon lange wussten, wird es kompliziert. Und dann Gerds gönnerhafte Art, als wäre es eine ganz besondere Leistung, dass er es mir selber sagt. Wer weiß, vielleicht leben wir tatsächlich in Zeiten, in denen es schon ein Beweis für Menschlichkeit ist, wenn dir dein Vorgesetzter persönlich sagt, dass er dich angeschissen hat. Von wegen, sorry, der Verleger … Wenn Gerd wirklich in Rente gehen wollte, wäre er jetzt gegangen. Stattdessen bleibt er da, was soll mir das sagen?
Vanessa beobachtet mich durch die Scheibe und suggeriert mir durch ihr Lächeln, dass sie vor mir über Gerds Vertragsverlängerung Bescheid wusste und davon ausgeht, dass ich den Psychokrieg nicht noch ein Jahr durchhalte. Vielleicht hat sie in beiden Fällen recht.
Ich drehe meinen Stuhl und schaue aus dem Fenster. Möwen stehen am Himmel wie festgetackert, und mir fällt der Trainer in meinem ersten Fußballverein ein. Als ich dorthin kam, spielte ein älterer, routinierter Spieler auf meiner Position. Er war die rechte Hand des Trainers, aber schon sechsunddreißig und sehr langsam. Der Trainer riet mir, dass ich von ihm lernen solle, denn ich würde sein Nachfolger werden, wenn er aufhört. Zwei Jahre verbrachte ich auf der Bank, bis ich endlich verstand, dass der Trainer mich nur benutzte, um den etablierten Spieler zu motivieren. Ich wechselte den Verein, und wie ich hörte, spielte der ältere Spieler noch vier Jahre weiter.
Zum ersten Mal frage ich mich, ob Gerd mir eine Möhre vor die Nase hält. Seit Jahren forciert er meine Arbeitsleistung mit der Verlockung des Chefpostens. In den letzten Jahren habe ich durch Überstunden mehr als sechzig Tage Resturlaub angehäuft und jetzt, kurz vor dem Ziel: noch ein Jahr Warteschleife. Falls es bei dem einen Jahr bleibt. Frage: Wenn Gerd nicht mit siebenundfünfzig in Rente geht, warum sollte er es dann mit achtundfünfzig tun?
Es ist, als hätte jemand den Vorhang gelüftet, und dahinter wäre endlich das gesamte Bild zum Vorschein gekommen. Natürlich geht Gerd nicht in Frührente. Wieso sollte er das tun? Da wartet niemand. Alles, was er hat, ist der Job. Herrje, er kann gar nicht in Rente gehen, denn dann müsste er das Jobhandy abgeben, und er hat ja kein privates, geschweige denn eine private Mailadresse.
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